თემა - In vielerlei Hinsicht werden heute in Georgien politische Kämpfe geführt

Zwischen allen Stühlen

Für die Westbindung findet sich in Georgien eine große Mehrheit – wenn es um Politik und Wirtschaft geht. Weniger Unterstützung gibt es für liberale Prinzipien. Doch der politische Kampf hat begonnen.

Georgien ist angesagt. Wer dort nicht selbst in den vergangenen Jahren Urlaub gemacht hat, kennt jemanden, der mit Begeisterung davon erzählt hat. Ein Land am Schwarzen Meer, eingebettet zwischen dem Großen und dem Kleinen Kaukasus, mit freundlichen Menschen, großartigem Essen und Wein, landschaftlich schön und ideal zum Wandern. Und dann die Techno- und Club-Szene: berühmt bis weit über die Grenzen des Landes hinaus – die Hauptstadt Tiflis, das »Berlin des Ostens«, arm aber sexy mit dem Club Bassiani, dem »Berghain Georgiens« unter dem Fußballstadion des FC Dinamo.

Die hedonistische »Techno-Revolte« zeigt bislang wenig Interesse an sozialen Fragen.

So weit der Mythos, der durch Georgiens »Techno-Revolte« im Mai gefördert wurde. Damals führte ein öffentlicher Rave vor Georgiens Parlament nicht nur dazu, dass die kurzzeitige Schließung des Bassiani rückgängig gemacht und sogar die äußerst restriktive Drogenpolitik des Landes ein wenig gelockert wurde (siehe Seite 4). Giorgi Kikonischwili, Mitorganisator der queeren Partyreihe »Horoom Nights« im Bassiani und bekanntestes Gesicht der georgischen Schwulenszene, sagt im Gespräch mit der Jungle World sogar, Georgien habe sich in jenen Tagen »am Scheideweg« zwischen Autoritarismus und Liberalisierung befunden – und sei nun hoffentlich auf dem richtigen Weg.

Seit der »Rosenrevolution« 2003 strebt Georgien eine Westbindung an, die von allen im Parlament vertretenen Parteien unterstützt wird. Man wolle »die europäischen Prinzipien« als »Grundstein für unsere Entwicklung nutzen«, sagte der damalige Präsident Micheil Saakaschwili 2006 vor dem Europäischen Parlament; das Fernziel sei der EU-Beitritt. 72,5 Prozent der Georgier befürworteten 2008 in einem Referendum den Beitritt zur Nato. Im Vergleich zu den autoritär regierten Nachbarstaaten geht es in Georgien tatsächlich einigermaßen liberal zu. Diese ­relative Freiheit genießt nicht nur die Techno-Szene, die auch für die Akzeptanz von Homosexualität und Drogenkonsum steht (siehe Seiten 4 und 5). Menschenrechtler aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken nutzen Geor­gien als Rückzugsraum, um ein wenig von der repressiven Situation in ihren Ländern zu verschnaufen (siehe Seite 10).

Viele Touristen kommen aus den Golfmonarchien und dem Iran nach Georgien, um zeitweise den strikten islamischen Regeln zu entrinnen, im Casino zu spielen und Alkohol zu trinken. Im Jahr 2017 reisten zudem fast 1,4 Millionen Russinnen und Russen ein.

Bereits zu sowjetischen Zeiten schätzte man Georgien als Urlaubsland, dennoch erscheint die Zahl angesichts der politischen Spannungen überraschend hoch. Doch in Tiflis, das knapp außerhalb der Reichweite der in Südossetien stationierten russischen Artillerie liegt, ist Russisch eine geläufigere Verkehrssprache als Englisch.

Georgien und Russland – es ist kompliziert. Seit dem Krieg zwischen den beiden Staaten im Jahr 2008 sind Abcha­sien und Südossetien de facto Protektorate Russlands. Der militärischen Überlegenheit Russlands versucht Georgien juristisch entgegenzutreten, die Regierung hat Ende August beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage gegen Russland wegen »kontinuierlicher Besatzung«, der Umzäunung Südossetiens und einer »zielgerichteten Kampagne gegen die Bürger Georgiens« eingereicht. Wie das Online-Portal Open Caucasus Media berichtete, wiesen Regierungsbeamte des nur von wenigen Ländern anerkannten Südossetiens die Klage als »einen absurden Akt der Propaganda« zurück. Georgien »erfinde« regelmäßig Menschenrechtsverletzungen, um Russland und die Regierung Südossetiens zu diskreditieren.

 

Bundeskanzlerin Angela Merkel besichtigte bei ihrem Besuch in Georgien vor knapp zwei Wochen auch die südossetisch-georgische Demarkationslinie. Sie war aber merklich darum bemüht, georgische Hoffnungen auf einen baldigen EU-Beitritt zu bremsen. Auch eine Aufnahme in die Nato ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Beide ­Organisationen wollen keine Staaten aufnehmen, die nicht ihr gesamtes ­Territorium kontrollieren – Russland dürfte dafür sorgen, dass dies im Fall Georgiens so bleibt.
Andererseits haben Nato und EU ein Interesse an der Westbindung Georgiens, von der das Land ökonomisch und politisch profitieren könnte. Die wirtschaftliche Lage ist weiterhin desolat, wenngleich die chaotischen Zustände der neunziger Jahre überwunden wurde. Während der Präsidentschaft Eduard Schewardnadses blieb Georgien eines der ärmsten Länder Europas. Gelder des Internationalen Währungsfonds und der EU versickerten in dunklen Kanälen, die Korruption blühte, die Infrastruktur verfiel und die Fabriken schlossen. Landesteile wie Abchasien, Südossetien und Adscha­rien wurden faktisch autoritär regierte Zwergstaa­-ten, die sich der Kontrolle der Zentralregierung in ­Tiflis entzogen.

Der 2004 zum Präsidenten gewählte Micheil Saaka­schwili profilierte sich zunächst als Modernisierer. Unter Westorientierung verstand er aber vor allem eine extreme Variante des Wirtschaftsliberalismus, wie sie in keinem westlichen Land praktiziert wird. Er reformierte die zuvor maßlos korrupte Polizei. Zahlreiche Beamte wurden entlassen. Wer neu eingestellt wurde, bekam ein deutlich höheres Gehalt und an die US-amerikanische Polizei erinnernde Autos und Uniformen. Saakaschwili ließ außerdem das Straßennetz ausbauen und neue Wasserkraftwerke errichten, um die Energie­unabhängigkeit zu sichern. Dadurch gelang es ihm, den wirtschaftlichen Niedergang des Landes aufzuhalten. Trotzdem haben seit dem Zerfall der Sowjetunion wegen der Deindustria­lisierung etwa eine Million Georgier das Land verlassen (siehe Seite 8).

Saakaschwili regierte äußerst autoritär. Politische Gegner landeten schnell in den Gefängnissen, lange Haftstrafen, Folter und Misshandlungen gehörten zur Normalität.

Zum Diktator aber konnte Saakaschwili sich nicht erheben. Er bequemte sich zu einer sehr eingeschränkten politischen Liberalisierung, Bekenntnisse zu diversity policy gehörten dazu. Seine desaströse Strategie im Konflikt mit Russland 2008, die Putin einen Vorwand für einen großangelegten Feldzug lieferte, kostete ihn viel Popularität; auch sein autoritärer Regierungsstil erregte immer mehr Missmut. Nach zwei Amtszeiten als Präsident durfte Saakaschwili 2013 nicht erneut kandidieren.
Unter seinem Nachfolger Giorgi Mar­gwelaschwili verbesserte sich die Menschenrechtslage, die wirtschaftsliberale Politik wird weitergeführt. Viele Georgierinnen und Georgier messen Wahlen, Parteien und Präsidenten aber keine allzu große Bedeutung zu. Als inoffizieller Staatschef gilt Bidsina Iwanischwili, ein milliardenschwerer Oli­garch, zeitweilig Ministerpräsident und derzeit Vorsitzender der Partei Georgischer Traum.

Die auch im Stadtbild von Tiflis symbolisch repräsentierte Westbindung – vor jedem georgischen Regierungsgebäude flattert neben der Landesfahne auch die der EU – ist vor allem eine realpolitische Notwendigkeit. Man erhofft sich Schutz vor Russland, Hilfsgelder und wirtschaftliche Chancen. Das Verhältnis des politischen Führungspersonals wie auch eines großen Teils der Bevölkerung zu liberalen Prinzipien hingegen ist bestenfalls zwiespältig. Die georgisch-orthodoxe Kirche füllte das ideologische Vakuum, das die ­KPdSU hinterlassen hatte, der Staat gestand ihr eine rechtlich privilegierte Stellung zu (siehe Seite 6). Als Ilia II. 1977 Patriarch der Georgischen Orthodoxen Kirche wurde, gab es kaum noch Priester im Land. Inzwischen prägen die bärtigen Popen in ihren schwarzen Roben wieder das Straßenbild, die Orthodoxie ist zu einem bedeutenden Macht- und Wirtschaftsfaktor geworden. Der Klerus hält nichts von liberalen Grundsätzen und folgt weitgehend dem autoritären Vorbild des ebenfalls orthodoxen Russland. Das äußert sich vor allem im Kampf gegen sexuelle Selbstbestimmung und die Rechte von LGBT-Per­sonen.

Noch vor fünf Jahren führten Geistliche am Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie einen gewalttätigen Mob zum

Angriff auf eine kleine Zahl von queeren Aktivisten, darunter auch Kikonischwili. In der jüngsten Auseinandersetzung um die kurzzeitige Schließung des Bassiani hat sich die Kirche hingegen zurückgehalten. Allerdings demonstrierten gegen den Rave vor dem Parlament einige Hundert extreme Rechte. In Georgien existieren zahlreiche rechtsextreme Gruppen. Sie hetzen vor allem gegen Migranten aus muslimischen Ländern und, ebenfalls im Einklang mit der Orthodoxen Kirche, die LGBT-Szene. Diese rechtsextreme Szene hat derzeit zwar wenig Einfluss, ihre Anhänger hoffen aber auf einen Aufstieg, wie er Rechts­populisten und -extremisten in vielen europäischen Ländern gelanunten ist.

In vielerlei Hinsicht werden in Georgien also politische Kämpfe geführt. Kann die gesellschaftliche Liberalisierung, die bislang von vielen Georgiern und Georgierinnen von der Bäuerin bis zum Oligarchen abgelehnt und nur als für die Westbindung notwendiges Übel akzeptiert wird, in breiten Schichten der Bevölkerung Fuß fassen? Oder erweist sich der russische Druck letztlich als zu stark?

Angesichts der Armut und der gesellschaftlichen Macht der Orthodoxen Kirche erscheint eine emanzipatorische Entwicklung nicht sehr wahrscheinlich. Die hedonistische »Techno-Revolte« zeigt bislang wenig Interesse an sozialen Fragen; Armut und prekäre Arbeitverhältnisse erschweren die gewerkschaftliche Organisierung der Lohnabhängigen (siehe Seite 9). Vor allem eines fehlt im gegenwärti­gen Georgien: eine ernstzunehmende linke Kraft, die sich der sozialen Fragen annimmt.