Der Schriftsteller Cornell Woolrich beeinflusste den Film Noir

Der unbekannte Dritte

Cornell Woolrich, der vor 50 Jahren starb, prägte den amerikanischen Kriminalroman und beeinflusste den Film Noir. Doch mit Raymond Chandlers Philip Marlowe haben seine Helden wenig gemein.

Ein Mann, durch eine Gehbehinderung zeitweilig an den Rollstuhl gefesselt, beobachtet, um sich die Langeweile zu vertreiben, durch das Hoffenster seine Nachbarn. Mehr und mehr hegt er den Verdacht, dass einer von ihnen, der plötzlich scheinbar grundlos seine Tagesgewohnheiten ändert, seine Ehefrau umgebracht haben könnte. Der Beobachter setzt seinen Hausdiener, einen Afroamerikaner, auf den Verdächtigen an, um diesen durch die Suche nach Indizien unter Druck zu setzen. Tatsächlich hat er Erfolg, gerät dadurch aber selbst ins Visier des Täters.

Die Geschichte ist berühmt, jeder kennt sie als Plot von Alfred Hitchcocks Film »Das Fenster zum Hof«, der 1954 in die Kinos kam.

Im Extremfall konvergieren die Rollen von Opfer, Täter und Detektiv in derselben Person: Dieses Handlungsmodell, als dessen Erfinder oft Boileau und Narcejac gelten, haben diese bei Woolrich vorgefunden. Verbrechen und Rätsel sind nichts vom Alltag Abgrenzbares mehr, sondern verdichten sich derart, dass das Leben selbst als Komplott erscheint.

Die Erzählung, die dem Film zugrunde liegt, ist mehr als zehn Jahre älter. Ihr Autor Cornell Woolrich hatte sie 1942 unter dem Pseudonym William Irish veröffentlicht. Hitchcock fügte ei­nige Nebenfiguren hinzu, machte aus dem schwarzen Gehilfen des Protagonisten dessen nichtschwarze Freundin, gespielt von Grace Kelly, und aus dem Helden einen nach einem Unfall arbeitsunfähigen Fotografen. Das Sujet des Voyeurismus, das bei Hitchcock dominiert, war in Woolrichs Kurzgeschichte, deren Hauptfigur ohne technische Hilfsmittel auskommen muss, noch wenig ausgeprägt. Während Hitchcock mit Kelly und James Stewart zwei Stars aufbot, deren Charme mit der Düsternis des Plots kontrastierte, entsprach Woolrichs bindungsloser Protagonist den Männerfiguren, die der Autor seit den Vierzigern in den Mittelpunkt einer Reihe von Kriminalromanen gestellt hatte. Beginnend mit dem 1940 erschienenen »The Bride Wore Black« (dt.: »Die Braut trug schwarz«), über »The Black Curtain« (»Der schwarze Vorhang«, 1941) und »The Black Angel« (»Der schwarze Engel«, 1943) bis zu »Rendezvous in Black« (»Rendezvous in Schwarz«, 1948), wird die Schwärze in diesen Büchern mit einer Beharrlichkeit beschworen, die an Redundanz grenzt.

Anders als Hitchcocks Film gehört Woolrichs gerade einmal 50 Seiten umfassende Erzählung, wie fast sein gesamtes Werk, ins Amerika des Zweiten Weltkriegs, in dessen Darstellung Erfahrungen aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise nachklingen. Deren Folgen hatte der 1903 in New York geborene Autor als junger Mann erlebt. Nach der Scheidung seiner Eltern bei seinem Vater aufgewachsen, der in Mexiko als Ingenieur arbeitete, brach Woolrich 1926 sein Journalistik-Studium an der New Yorker Columbia University ab und zog nach Kalifornien. Seine Hoffnung, das Drehbuch zur Ver­filmung seines zweiten Romans, »Children of the Ritz« (1927) verfassen zu dürfen, um in Hollywood Karriere zu machen, wurde enttäuscht. William Irish, das Pseudonym, unter dem Woolrich später ­Kriminalromane veröffentlichte, war der Name des Drehbuchautors gewesen, der ihm bei der Bearbeitung seines Buches vorgezogen worden war. Woolrichs Ehe mit Violet Virginia Blackton, der Tochter des Filmproduzenten James Stuart Blackton, scheiterte nach wenigen Jahren wegen seiner Affären mit jungen Männern, er zog zurück nach New York, wo er bis zum Tod seiner Mutter 1957 mit dieser und danach bei einer Tante lebte. Gesellschaftliche Kontakte pflegte er wenige, dem Filmmilieu, das vielen seiner Bücher Bekanntheit verschafft hat, blieb er fern.

In Woolrichs Biographie verdichten sich Erfahrungen, die auf Umbrüche der Zeit zwischen den späten Zwanzigern und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs verweisen: der Zerfall ökonomischer Sicherheiten, die Erosion der Familie, die schroffe Ent­wertung tradierter Geschlechterrollen. Dass es in seinen Büchern durchweg Frauen sind, in denen die im Bedürfnis nach Bemutterung gefan­genen Männer einen stets trügerischen letzten Halt suchen, reflektiert sein eigenes halbfreiwilliges Dasein als lebenslanger Sohn. Während das Genre des Hardboiled-Krimis, das Dashiell Hammett Ende der Zwanziger begründete und Raymond Chandler während des Zweiten Weltkriegs mit seiner Philip-Marlowe-Serie fortsetzte, auf solche Zerfallserfahrungen mit der Imago des verletzlichen, aber charakterstarken private eye antwortete, sind Woolrichs Männerfiguren stärker durch ihre Obses­sionen als durch ihr Charisma bestimmt. Sie ermitteln in eigener Sache, und der Leser kann nie sicher sein, ob aus der Geschichte am Ende nicht ein Indizienprozess gegen den Helden wird. Wohl auch deshalb ist der neben Hammett und Chandler dritte Exponent der »Schwarzen Serie« relativ unbekannt geblieben.

 

Der Protagonist von »Der schwarze Vorhang« etwa erwacht zu Beginn des Buches durch den Zusammenstoß mit einem Passanten aus einem ­Gedächtnisverlust und muss erkennen, dass er sich vor langer Zeit von seiner Frau getrennt hat und unter falschem Namen in einen Mordfall verwickelt gewesen ist. Um sich seiner Unschuld zu versichern, bemüht er sich um Rekonstruktion der entscheidenden vergessenen Tage. Schließlich gelingt es ihm, die wahren Täter zu überführen, doch warum er das Gedächtnis verloren und weshalb er sich eine falsche Identität zugelegt hat, bleibt ungeklärt. Die Fähigkeit, sich das Leben als zusammenhängende Geschichte zu erzählen, haben fast alle Protagonisten Woolrichs eingebüßt. Seine Romane berichten von stets nur fragmentarisch gelingenden Versuchen, jenen Zusammenhang wiederherzustellen. In »Der schwarze Engel« ist es die Frau des wegen Mordes an seiner Geliebten zum Tode verurteilten Pro­tagonisten, die dessen Leben zu rekonstruieren sucht, um seine Unschuld zu beweisen, in »Rendezvous in Schwarz« wird der Protagonist zum Ergründer der Lebensgeschichte seiner Geliebten, nachdem diese der fahrlässigen Tötung angeklagt worden ist. Immer sind detektivisches und biographisches Rätsel miteinander verbunden, doch aufklären lässt sich nur der Kriminalfall.

In Woolrichs späteren Romanen verschmelzen biographische und kriminalistische Ermittlung. »Waltz into Darkness« (»Walzer in der Dunkelheit«, 1947) erzählt die Geschichte eines Mannes, der eine Frau heiratet, die er nur aus Briefen kennt, und der sich, indem er in ihr Leben verwickelt wird, in ein Verbrechen verstrickt. »I Married a Dead Man« (»Ich heiratete einen Toten«, 1948) nimmt mit seinem Plot um eine Frau, die nach einem Unfall ihre Identität mit einer anderen tauscht, Elemente der Krimis vorweg, die das französische Autorenduo Pierre Boileau und Thomas Narcejac seit den Fünfzigern herausbrachte. Wie die Protagonisten von Woolrichs Büchern verfangen sich ihre Figuren in von Freunden, Geliebten oder Verwandten gesponnenen Intrigennetzen und sind bei dem Versuch des Entkommens auf sich selbst verwiesen. Denn wie bei Woolrich gibt es keine Ermittler mehr, die Figuren müssen die Komplotte, denen sie zum Opfer fallen, allein rekonstruieren. Im Extremfall konvergieren die Rollen von Opfer, Täter und Detektiv in derselben Person: Auch dieses Handlungsmodell, als dessen Erfinder sie oft gelten, haben Boileau und Narcejac bei Woolrich vorgefunden. Verbrechen und Rätsel sind nichts vom Alltag Abgrenzbares mehr, sondern verdichten sich derart, dass das Leben selbst als Komplott erscheint. Boileau und Narcejac, nur wenige Jahre jünger als Woolrich, haben so vor dem Hintergrund des Nachkriegsfrankreich (in ihren frühen Büchern ist die Geschichte der Kollaboration allgegenwärtig) Motive des amerikanischen Krimis der dreißiger Jahre aktualisiert.

Mit den beiden Franzosen teilte Woolrich das Schicksal, ein Leben lang der unbekannte Autor von Vorlagen weitaus bekannterer Filme zu sein. Vier Jahre nach »Das Fenster zum Hof« verfilmte Hitchcock mit »Vertigo« einen Roman von Boileau und Narcejac, schon 1955 hatte ­Henri-Georges Clouzot eines ihrer Bücher als Vorlage für »Die Teuflischen« verwendet, mit dem er an den Film Noir anknüpfte. Dessen Regisseure wiederum haben sich immer wieder bei Woolrich bedient: »Zeuge gesucht« von Robert Siodmak (1944), »Die Nacht hat tausend Augen« von John Farrow (1948) und »Das unheimliche Fenster« von Ted Tetzlaff (1949) beruhen alle auf Werken von Woolrich. Der hat der schlecht belohnten Popularität seiner Bücher so wenig abgewinnen können wie ­seiner späteren Wiederentdeckung durch die Nouvelle Vague, die ihm wie die gesamte kulturelle Aufbruchsbewegung der sechziger Jahre fremd blieb. Als François Truffaut 1968 eine Adaption von »Die Braut trug schwarz« in die Kinos brachte, blieb Woolrich der Premiere fern. Dass Rainer Werner Fassbinder sechs Jahre später mit »Martha« seinen vielleicht besten Film auf der Grundlage von Woolrichs Kurzgeschichte »For the Rest of Her Life« (»Für den Rest ihres Lebens«, 1968) drehte, hat ­dieser nicht mehr erlebt. Sein Tod am 25. September 1968 wurde von den Medien kaum notiert.