Ein Crash vom Ausmaß der Weltwirtschaftskrise von 1929 wird befürchtet

Die nächste Depression

Im September 2008 ging die mächtige Investmentbank Lehman Brothers pleite – mit weltweiten Folgen. Zehn Jahre nach der Finanzkrise droht der nächste Crash.

An pessimistischen Prognosen mangelt es derzeit wahrlich nicht. Die nächste Rezession könnte der Großen Depression ähneln, jener Wirtschaftskrise, die in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die halbe Welt in Not und Elend stürzte.

Spätestens in zwei Jahren wären die Effekte der Steuer­reform von US-Präsident Donald Trump verpufft, prophezeite der Investmentbanker Ray Dalio vergangene Woche. Dann werde die Zentralbank mehr Geld drucken müssen, um das enorme US-Haushaltsdefizit zu finanzieren. Enorme soziale und politische Krisen seien unausweichlich.

Dalio ist zwar bekannt für seine starken Worte, er kann sie sich aber auch leisten. Als Gründer des weltgrößten Hedgefonds Bridgewater ist er für rund 150 Milliarden Dollar verantwortlich. Seine Anleger warnt er seit geraumer Zeit davor, dass ungemütliche Zeiten bevorstehen.

Pünktlich zum zehnjährigen Jubiläum der Finanzkrise von 2008 sind unzählige Prognosen und Einschätzungen wie jene von Dalio erschienen, die fast alle im selben Ton gehalten sind: Die Folgen der nächsten Finanzkrise könnten dramatisch sein.

Die dystopischen Visionen stehen in scharfem Kontrast zur maßlosen Selbstüberschätzung, die vor der Krise von 2008 mehrheitlich unter Finanzexperten herrschte. Das Kernproblem der Wirtschaftswissenschaften, »nämlich die Verhütung einer Depression, ist praktisch gelöst und dies de facto auf Jahrzehnte hinaus«, behauptete damals Robert E. Lucas, Nobelpreisträger und einer der prominentesten Makroökonomen der Welt, stellvertretend für seine Zunft.

Zehn Jahre nach der Krise hat sich der Finanzsektor noch deutlich ausgeweitet. Eine erneute Krise wäre auch mit Kraft­anstrengungen wie 2008 längst nicht mehr zu bewältigen.

Begründet wurde der ungebremste Optimismus durch neuartige Geschäftsmodelle auf dem Finanzmarkt, die die Deregulierungen in den achtziger Jahren in den USA und Großbritannien ermöglicht hatten. Als besonders lukrativ erwies sich dabei die Immobilienbranche. So vergaben Banken Immobilienkredite in großer Zahl auch an Kunden, die sich diese eigentlich gar nicht leisten konnten. Die daraus resultierenden Schuldtitel wurden dann in Form von Wertpapieren weitergehandelt. Weil diese Papiere wiederum über komplizierte Derivate versichert waren, behaupteten die Banken, das El Dorado der Finanzbranche entdeckt zu haben: maximale Gewinne bei maximaler Sicherheit.

Dieses System funktionierte, solange alle Beteiligten darauf vertrauten. Als sich die Kreditausfälle häuften und die ersten Banken in Zahlungsschwierigkeiten gerieten, endete die Euphorie schlagartig. Nun versuchten die Anleger, so schnell wie möglich ihre Schuld­titel loszuwerden. Zu den letzten, die erkannten, dass deren Wert ins Boden­lose zu fallen drohte, gehörten die deutschen Landesbanken.

Den Kulminationspunkt erreichte die Krise mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers vor zehn Jahren. Nach einer Reihe von Bankenpleiten, die von der US-Regierung aufgefangen wurden, erschien das Kreditinstitut ge­eignet, um ein Exempel zu statuieren: Private Institute sollten künftig gefälligst selbst für ihre Verluste einstehen. Das Bilanzvolumen von Lehman Brothers galt als überschaubar, weitreichende Folgen schienen ausgeschlossen. Weil die Bank jedoch auch als Clearinggesellschaft und Depot für Tausende Finanzinstrumente aus aller Welt gedient hatte, wusste nach deren Crash plötzlich niemand mehr, welche Schuldtitel von der Pleite betroffen sein würden. Weil somit auch niemand mehr prognostizieren konnte, welche Bank als nächstes bankrott gehen konnte, stellten die meisten Institute faktisch ihre Kreditvergabe ein.

Ein solches Szenario hatten Politiker und Wirtschaftsexperten schlicht nicht vorhergesehen. Zuvor waren Finanzkrisen regional auf Lateinamerika oder Asien begrenzt gewesen. Nun aber herrschte weltweit Ebbe in den Kassen. Selbst eine Implosion des gesamten Finanzsystems schien nicht mehr ausgeschlossen.

 

Der weltweite Crash wurde zwar im letzten Moment verhindert, weil die US-Regierung schnell und entschlossen reagierte. Sie pumpte enorme Summen in den Finanzmarkt, senkte die Leitzinsen und verstaatlichte marode Banken. Das beispiellose Vorgehen verhinderte die schlimmsten Folgen, schuf aber gleichzeitig neue Probleme.

Schon nach relativ kurzer Zeit erholten sich die Börsen. Wer Vermögen hatte, profitierte von dem anschließenden Aktienboom, einem der längsten in der jüngeren Geschichte. Zu den Ver­lierern gehörten hingegen jene, die während der Kri­se Arbeit oder Haus verloren hatten. Während der Finanzmarkt mit Geld geradezu überschwemmt wurde, verfolgten viele Regierungen zugleich eine rigide Austeritätspolitik, um die Staatshaushalte zu entlasten.

Großbritannien sparte seitdem bei sozialen Dienstleistungen wie im Gesundheits- und im Bildungsbereich. Aktuelle Statistiken zeigen, dass in der vergangenen Dekade die Lebenserwartung auf der Insel um ein Jahr abgenommen hat – nachdem sie zuvor jahrzehntelang angestiegen war.

Auch in den Vereinigten Staaten sinkt die Lebenserwartung erstmals seit Beginn der sechziger Jahre. Vor allem in den ehemaligen Industrieregionen, dem sogenannten Rust Belt, verschlechterte die Finanzkrise die Lebensbedingungen erheblich. Mittlerweile sterben dort mehr Menschen durch Opiate und Drogen als durch Verkehrsunfälle oder Schusswaffen. Zugleich nimmt die Vermögenskonzentration feudale Proportionen an. Dem ersten World Inequality Report von 2018 zufolge – zu den Herausgebern zählt der kapitalismuskritische Ökonom Thomas Piketty – besitzt ein Prozent der US-Bevölkerung rund 42 Prozent des gesamten Vermögens.

Auch in Deutschland hat die Vermögenskonzentration in den vergange­nen zehn Jahren deutlich zugenommen. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin besitzen die reichsten 45 Haushalte in Deutschland so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Die Vermögenden profitieren auch hier von hohen Zuwächsen aus Aktien- und Immobilienbesitz.

Die Lasten der Finanzkrise tragen hingegen vorwiegend die Steuerzahler. Der Antwort auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag zufolge summierten sich die Krisenkosten für die öffentlichen Haushalte in Deutschland auf bis zu 68 Milliarden Euro. Darin enthalten sind Garantien, Kredite und Stützkäufe. Dafür hat eine vierköpfige Familie bislang im Durchschnitt mehr als 3 000 Euro bezahlt. Hinzu kommen indirekte Kosten der Bankenkrise, wie Entlassungen und teure Konjunkturpakete, Probleme bei der Altersvorsorge und steigende Mieten.

Die vielleicht gravierendsten Auswirkungen sind dabei noch gar nicht erfasst. Ohne die Finanzkrise von 2008 ist die spätere Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten kaum vorstellbar. Seine Wähler rekrutieren sich vor allem aus jenen Regionen im Mittleren Westen, die mit am stärksten unter der wirtschaftlichen Depression zu leiden hatten. Besonders anfällig für seine Propaganda war die Mittelklasse, in der seit der Finanzkrise Abstiegsängste weitverbreitet sind. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in Europa feststellen.

Die Verursacher der Krise mussten hingegen kaum Konsequenzen tragen. Zwar wurden in Europa und den USA einige Regulierungen in der Bankenbranche eingeführt, die aber teil­weise auch schon wieder zurückgenommen wurden. Banken müssen nun beispielsweise einen höheren Eigenkapitalanteil vorweisen, der jedoch im Krisenfall kaum zu ihrer Rettung ausreichen dürfte.
Zehn Jahre nach der großen Krise hat sich der Finanzsektor sogar noch deutlich ausgeweitet. Eine erneute Krise wäre auch mit Kraftanstrengungen wie 2008 längst nicht mehr zu bewältigen. Die Bank of England hat jüngst darauf hingewiesen, dass das Volumen des britischen Finanzsektors rund zehnmal so groß sei wie das Bruttoinlands­produkt, mit weiter steigender Tendenz.

Große Bereiche des Finanzmarkts sind zudem kaum oder gar nicht reguliert. Eine Mehrzahl der Transaktionen spielt sich heutzutage im Direkthandel ab, der zumeist über von Rechnern generierten Algorithmen erfolgt. Die in Basel ansässige Bank für Internatio­nalen Zahlungsverkehr (BIZ) schätzt das Volumen des Direkthandels derzeit auf 532 Billionen Dollar. Kaum erfasst sind die Transaktionen, die von so­genannten Schattenbanken getätigt werden – Unternehmen also, die Geld verleihen, ohne dass sie über reguläre Banklizenzen verfügen, wie etwa Kreditkarteninstitute. Auch hier wird ein Volumen in einem hohen dreistelligen Billionenbereich vermutet.

Die Rettungsmaßnahmen der letzten großen Krise haben dazu beigetragen, dass sich die Risiken für katastrophale Krisen in Zukunft exorbitant erhöht haben. Ray Dalio hatte also gute Gründe, seine Geldgeber früh zu warnen. Doch sie werden zweifellos nicht zu den Verlierern des nächsten großen Crashs gehören.