Aglaja Veteranyi revolutionierte die Migrantenliteratur

F wie Heimat

In ihren posthum veröffentlichten Büchern zeigt sich die mit dem Roman »Warum das Kind in der Polenta kocht« bekannt gewordene Aglaja Veteranyi als eine Autorin, die drauf und dran war, die Migrantenliteratur zu revolutionieren.

»Wir sind orthodox, wir sind jüdisch, wir sind international!« schreibt
Aglaja Veteranyi in ihrem 1999 veröffentlichten Debütroman »Warum das
Kind in der Polenta kocht«. »Mein Großvater hatte eine Zirkus­arena, er
war Kaufmann, Kapitän, zog von Land zu Land, verließ nie sein Dorf und
war Lokomotivführer. Er war Grieche, Rumäne, Bauer, Türke, Jude,
Adliger, Zigeuner, Orthodoxer.« Immer wieder beschäftigte sich Veteranyi
in ihren Texte mit dem fragilen Leben zwischen den Kulturen, nähert sich
an die eigene Familiengeschichte an und überzeichnet ihre Lebenswelt,
die voller Widersprüche und Absurditäten ist. Als »Paradiesvogel« wurde
die Autorin vom Feuilleton bezeichnet, ganz so, als wolle man das alte
Klischee der überdrehten, osteuropäischen Zirkusfamilie noch einmal
bestätigen. Veteranyi wurde in eine Artistenfamilie hineinge­boren: Der
Vater war ein ungarischer Clown, die Mutter eine rumänische
Hochseilartistin. Wie schon in ihrem Debütroman erzählt sie auch auch in
ihrem zweiten Roman »Das Regal der letzten Atemzüge« (2002) von der Welt
des Zirkus.
Paradiesisch sind die Zustände, die sie schildert, keinesfalls, immer
schwingt Brutalität mit, die sich mal gegen andere und mal gegen die
­Protagonistin selbst richtet. »Ich selbstmordete mich täglich, hängte
mich am Heizkörper auf, oder baumelte vom Balkon herunter. Ich starb an
Dunkelheit, Sommer, Traurigkeit oder an langer Haut. Vor ­allem starb
ich an meiner Mutter, die mir aus dem Gesicht wuchs«, heißt es etwa in
»Das Regal der letzten Atemzüge«. Der unvollendete Roman konnte erst
posthum erscheinen, am 3. Februar 2002, wenige Monate vor ihrem
40. Geburtstag, beging ­Veteranyi in Zürich Selbstmord.
Aglaja Veteranyi wurde 1962 in Bukarest geboren, wenige Jahre später
floh sie mit ihrer Familie in den Westen, lebte in verschiedenen
Ländern, seit 1977 in der Schweiz. Eine Schule besuchte sie nie, in
einem Interview sagte sie: »Ich war nicht dafür vorgesehen, in der
Außenwelt zu bestehen, sondern im Zirkus zu arbeiten.« Während ihrer
ersten Jahre in der Schweiz brachte sich das Mädchen das Schreiben und
Lesen selbst bei.
Das Gefühl von Fremdheit, das sie in ihren Texten thematisiert, verspürt
sie ebenso gegenüber ihrer »Heimat« Rumänien wie gegenüber ihrer
Wahlheimat Schweiz. Auch ­gegen Familie grenzt sie sich ab. Ihre aus
Prosa-fragmenten, Lyrik, Avantgardebezügen und Sprachspielen bestehende
Literatur von einer per­manenten Flucht vor Festlegungen geprägt.
Das »Deutsche als Fremdsprache« setzt sie in ihren Texten als Stilmittel
ein, eine Form, sich von der Idee einer Identität und Heimat zu
distanzieren. »Bei uns ist überall Ausland. Meine Mutter sagt, die Leute
zuhause sind arm wie verkochte Knochen«, heißt es in der Urfassung von
»Wenn das Kind in der Polenta kocht«. Veteranyi besuchte eine
Schauspielschule und lebte seit den frühen Achtzigern als freie
Schriftstellerin und Schauspielerin in Zürich. Vor dem Erscheinen ihres
Debütromans 1999 hatte sie in zahlreichen Literaturzeitschriften und
Anthologien publiziert.
Hartnäckig verweigerte sich die Autorin den Erwartungen des
Literaturbetriebs an »Migrantenliteratur« der Gegenwart, lieber
orientierte sie sich an der Tradition literarischer Avantgarden des
20. Jahrhunderts. Migranten wie die Rumänen Tristan Tzara und Marcel
Janco erkor sie zu ihren Vorbildern, Autoren, die während des Ersten
Weltkriegs nach Zürich gekommen waren und dort mit Hugo Ball und anderen
Dada und das Cabaret Voltaire begründeten. Nicht nur teilte Veteranyi
den Spaß der Dadaisten an zuweilen auch albernen Wort- und
Sprachspielen. Auch führt sie die Welt als verkommene vor, weshalb sie
ihr nur mit melancholischer Ironie begegnen kann. »Endlich habe ich
einen Reisepass bekommen! Ich werde mir jetzt ein Leben wachsen lassen,
um die Welt zu sehen«, heißt es in der Prosaminiatur »Hier, wo ich
wohne«, die ihre reale Lebenswelt als »Fremde« mit einer verfremdeten,
surrealen Umwelt konfrontiert.
Veteranyi arbeitete an der Überschreitung bürgerlicher Vorstellungen von
Literatur, gründete 1992 den ­experimentellen Autorenzusammenschluss
»Netz«, 1993 zusammen mit René Oberholzer die Gruppe Die Wortpumpe und
1996 schließlich mit ­ihrem Lebensgefährten Jens Nielsen die
Performance-Theatergruppe Die Engelsmaschine, die sie in der Tradi­tion
des Cabaret Voltaire sah.
Jens Nielsen ist es auch zu verdanken, dass die Autorin nicht in
Ver­gessenheit gerät. Bereits 2004 unterstützte er die Veröffentlichung
von Kurztexten, Gedichten und Theaterstücken unter dem Titel »Vom
geträumten Meer, den gemieteten Socken und Frau Butter«. Kürzlich sind
zwei weitere Bände mit unveröffentlichten Texten von Veteranyi im
Schweizer Verlag Der gesunde Menschenversand erschienen: »Wörter statt
Möbel« und »Café Papa«. Im Nachwort zu »Wörter statt Möbel« schreibt
Nielsen, Veteranyi habe ihr Publikum zu einem neuen Lesen ­bewegen
wollen, »indem sie dem Denken etwas in den Weg stellte. Ein Hindernis.
Aber keines, das das Denken sofort anregt, sondern eines, das es dahin
bringt, kurz auszusetzen.« Ihre Ästhetik, ihr Blick für Absonder­liches,
widersetzt sich dem einfachen Verständnis von Texten, man stolpert über
die Hindernisse in der Sprache, erst nach dem zweiten oder dritten Lesen
erschließen sich Zusammenhänge. »Sie stieg in ihre Heimat, die war so
groß wie eine Fußsohle, und begann wild zu singen. Später kam die
Polizei und bewarf die Fremde mit Wörtern aus Buchstaben«, heißt es etwa
im Kurztext »F wie Heimat«. Ihr Stil erinnert an ­Daniil Charms, dem sie
mit dem in »Café Papa« enthaltenen Text ­»Vorsicht bissige Hühnersuppe«
literarisch ­Reverenz erweist. Charm’s Prosa­fragmente und Gedichte
gehören zum Bittersten, Zynischsten und Komischsten, was die europäische
Literatur im frühen 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Sein Werk bietet
aber ebenso wie das von Veteranyi nicht, was von einem Literaten
erwartet wird: ein Großwerk. Selbst sein Roman »Die Alte« von 1939
bricht nach 25 Seiten mit den Worten ab: »Damit beende ich vorerst mein
Manuskript, da ich meine, dass es ohnehin schon ziemlich lang geworden
ist.« Ein Satz, der auch von Veteranyi hätte stammen können. Ihre beiden
Romane setzen sich vielmehr aus kleinen Szenen und Skizzen zusammen und
entfalten durch Verknappung und Verkürzung ihre Wirkung.
  Die beiden nun erschienenen Bände aus dem Nachlass unterstreichen noch
einmal eindrucksvoll, dass Veteranyi eine Meisterin der kleinen Form
war, der radikalen Verkürzung. Auch in diesem Insistieren auf der
kleinen Form bildete sie die eigene Distanz zum Literaturbetrieb ab, der
in ihr eine Fremde, einen »Paradiesvogel« sehen wollte, und in der
Verknappung »Kalendersprüche« oder »Satzartistik« am Werk sah. »Wie
­viele Stile, literarische Gattungen oder Bewegungen, auch ganz kleine,
­haben nur den einen Traum: eine sprachliche Großfunktion zu er­füllen,
Dienste zu leisten als offizielle, als Staatssprache. Doch es geht um
den entgegengesetzten Traum: klein werden können, ein Klein-Werden
schaffen«, haben Deleuze und Guattari über Kafkas Werk geschrieben.
Veteranyi hat in ihrem Werk einen Fluchtweg aus den konventionellen
Bahnen der Literatur aufgezeigt und eine andere Form von
»Migranten­literatur« entworfen, eine, die stets auf Distanz zu einer
Idee von Heimat bleibt, zur alten wie auch zur neuen. Die eigene Flucht
wird darin immer wieder aufs Neue inszeniert: »Gezeugt in Krakau und
geboren in Bukarest. Die Hände meiner Hebamme kamen aus Deutschland.
Mein Blinddarm blieb in der Tschechoslowakei, in einem Militärhospital.
Meine Mandeln bleiben in Madrid.«