Die Mehrheit der Bevölkerung Neukaledoniens hat gegen die Unabhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich gestimmt

Abstimmen bis zum Umfallen

Im westpazifischen Archipel Neukaledonien hat die Mehrheit der Bevölkerung in einem Referendum gegen die Unabhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich gestimmt. Die Nachfahren der autochthonen Bevölkerung sind allerdings mehrheitlich dafür.

Neukaledonien bleibt französisch. Die Bevölkerung der im Westpazifik liegenden Inselgruppe hat am Sonntag da­rüber abgestimmt, ob die ehemalige Kolonie, die nach 1946, wie andere ehemalige Besitzungen, den Status eines »Überseeterritoriums« bekam und seit 2003 als »Überseegemeinschaft mit besonderem Status« gilt, weiterhin zu Frankreich gehören oder ein unabhängiger Staat werden soll.

Die Ergebnisse in den einzelnen Kommunen waren sehr unterschiedlich: Im Norden der Hauptinsel Grande Terre stimmten sämtliche Provinzen mit deutlicher Mehrheit für die Unabhängigkeit, so etwa in der Provinz Hienghène mit 94,75 Prozent der Stimmen. Dort leben mehrheitlich Nachfahren der ­autochthonen Bevölkerung, der Kanaken (melanesisch für »Menschen«). In nahezu allen südlichen Provinzen Grande Terres fand die Unabhängigkeit hingegen keine Mehrheit; so waren etwa in der Provinz Poya-Sud nur 2,05 Prozent der Wählerinnen und Wähler dafür. In diesen Provinzen leben mehrheitlich Zugewanderte, vor allem Europäer und deren Nachfahren, aber auch Polynesier und Asiaten. Insgesamt stimmten 56,6 Prozent der Wählerinnen und Wähler gegen die Unabhängigkeit – deren Befürworter würden eher von Entkolonisierung sprechen.

Die kanakische Bevölkerung fürchtet eine weitere Verdrängung, zumal Frankreich noch immer die Ansiedlung seiner europäischen Staats­angehörigen aus Europa in Neukale­donien finanziell erheblich begünstigt.

Das Referendum war seit 30 Jahren geplant und mit einer gewissen Anspannung erwartet worden. In den achtziger Jahren war es wiederholt zu ­gewaltsamen, auch bewaffnet ausgetragenen Konflikten zwischen Kanaken und den seit dem späten 18. Jahrhundert und vermehrt seit der französischen Inbesitznahme des Archipels 1853 dort angesiedelten Europäern gekommen. Die wichtigste Unabhängigkeitsbewegung, die Kanakische sozialistische Front der nationalen Befreiung (FLNKS), die 1984/85 einen viel befolgten Generalstreik organisierte, stimmte dann jedoch einem Kompromiss zu, der 1988 in das »Abkommen von Matignon« mündete, benannt nach dem Amtssitz des französischen Premierministers, Hôtel Matignon. Dem Abkommen sollte nach einer zehnjährigen Übergangsfrist eine Abstimmung zur Einleitung der Unabhängigkeit folgen, falls diese von der Mehrheit der Bevölkerung gewünscht wird.

Im Herbst 1998 wurde die Abstimmung jedoch infolge eines erneuten Abkommens, dem von Nouméa, benannt nach der Hauptstadt Neukaledoniens, abermals um 20 Jahre verschoben. Die Zeit wurde genutzt, um einige Maßnahmen zur Herausbildung einer ­kanakischen Führungsschicht einzuleiten. Die Kanaken wurden bis dahin in vielerlei Form diskriminiert, sie waren vom Bildungssystem weitgehend ausgeschlossen und auf die kargen Böden des bergigen Nordens von Grande ­Terre verdrängt worden. Seit 1988 wurden jedoch 400 kanakische Führungskräfte ausgebildet. Auch die Kanaken sollten vom Nickelbergbau, der Haupteinnahmequelle der Inselgruppe, profitieren. Rund ein Viertel der welt­weiten Nickelvorkommen ist hier zu finden. Der Rohstoff wird vor allem in der Elektronikindustrie benötigt.

Derzeit stellen Kanaken gut 39 Prozent der 300 000 Einwohner des Archipels, Nachfahren von Europäern rund 27 Prozent. Die kanakische Bevölkerung fürchtet eine weitere Verdrängung, zumal Frankreich noch immer die Ansiedlung seiner europäischen Staats­angehörigen aus Europa in Neukale­donien finanziell erheblich begünstigt.

Frankreich unterstützt Neukaledonien zudem jährlich mit 1,3 Milliarden Euro. Von der EU gibt es ebenfalls Geld und die Neukaledonier dürfen bei Europawahlen abstimmen, auch wenn die ­Inselgruppe kein EU-Mitglied, sondern nur ein assoziiertes Gebiet ist.

Um zu verhindern, dass die Kanaken in der Wahlbevölkerung unterrepräsentiert sind, durften beim Referendum – anders als bei allgemeinen Wahlen – nur Personen abstimmen, die seit 1994 in Neukaledonien wohnen und dort ihren Lebensmittelpunkt haben.

Das Abkommen von Nouméa sah in Punkt fünf dezidiert als Schlusspunkt des 20jährigen Übergangsprozesses die »vollständige Emanzipation Neukaledoniens« von Frankreich vor. Für manche politische Kräfte bedeutet dies die Übertragung von Hoheitsrechten, für andere die volle Souveränität. Die »loyalistischen«, also zu Frankreich haltenden rechten Parteien auf der Inselgruppe, wie der Ableger der neogaullistischen Partei Les Républicains, ­wollen diesen Passus am liebsten streichen. Sie hofften, ihn vergessen ­machen zu können, falls die Unabhängigkeit deutlich abgelehnt würde. ­Umfragen sagten eine Ablehnungsquote von 62 bis 73 Prozent voraus, weit mehr als die tatsächlichen 56,6 Prozent. Das lag vermutlich an der hohen Wahlbeteiligung von 80,6 Prozent.

Diese verdankt sich vor allem jungen ­kanakischen Wählerinnen und Wählern, die bei allgemeinen Wahlen selten ­abstimmen.

Das Abkommen von Nouméa sieht auch vor, dass in den kommenden sechs Jahren zwei weitere Abstimmungen zur Unabhängigkeit anberaumt werden dürfen, falls ein Drittel des Inselparlaments dies verlangt und im ersten Referendum noch keine Mehrheit für die Unabhängigkeit erzielt werden konnte. Dafür mobilisieren nun die Unabhängigkeitsbefürworter.