Die Stiftung für forensische Anthropologie in Guatemala exhumiert Opfer von Kriegsverbrechen

Die Toten zum Reden bringen

In Guatemala gibt es zahlreiche geheime Massengräber, meistens stammen sie aus dem Bürgerkrieg (1960-1996), dem rund 200 000 Men­schen zum Opfer fielen. Die Mitarbeiterinnen und Mit­arbeiter der Stiftung für forensische Anthropologie (FAFG) ex­humieren und identifizieren die Toten und verschaffen vielen Angehörigen der Opfer nach Jahren endlich Gewissheit über deren Verbleib.

Pedro Santiago Pérez hat lange auf diesen Moment gewartet. Gemeinsam mit einer Gruppe von Familienangehörigen ist der Vertreter der »Bauernvereinigung für die integrale Entwicklung von Nebaj« nach Guatemala-Stadt gekommen, um die in der Hauptstadt ansässige Stiftung für forensische Anthropologie (FAFG) zu besuchen und sich für die Arbeit der Forensiker zu bedanken. Diese haben im Norden Gua­temalas in der Region Chajul, mehr als sechs Fahrstunden von der Hauptstadt entfernt, mittlerweile die 96 Opfer des Massakers von Estrella Polar exhumiert und identifiziert. In dem Dorf hatte die Armee im März 1982 während des Bürgerkriegs 96 Männer in eine Kirche gebracht und dort ermordet. 2006 wurde mit der Exhumierung begonnen. Für die Angehörigen war dies ein wichtiger Schritt, denn die Identifizierung hat es erst ermöglicht, die sterblichen Überreste ihrer Männer, Onkel, Väter und Kinder zu beerdigen und Abschied zu nehmen.

»Nun sind wir hier, um uns die Arbeit des Teams erklären zu lassen und uns zu bedanken«, sagt Santiago Pérez, der die Gruppe vertritt und den Besuch organisiert hat. Er schüttelt dem Forensiker Reinaldo Acevedo die Hand. Der graumelierte Mann trägt einen weißen Kittel mit dem Schriftzug »FAFG«. Er empfängt die Gruppe, während seine Kollegen an den langen Tischen ihrer Arbeit nachgehen. Aus dunkelbraunen Papiertüten, die das Logo der FAFG und eine Nummer tragen, entnehmen sie Knochen, Schädel und manchmal auch ein Schmuckstück. Nachdem sie die sterblichen Überreste gereinigt haben, ordnen sie das Skelett auf einem der großen Tische an. »Wir gehen hier nach einem klar definierten Plan vor«, erklärt Shirley Chacón, die Laborleiterin. Seit 21 Jahren arbeitet sie bei der 1992 gegründeten Stiftung im Dienst der Opfer. Exhumieren, analysieren, identifizieren, aber auch Todesursachen ­rekonstruieren und Beweise sichern – all das leistet das derzeit 60köpfige Team der FAFG. So trägt es dazu bei, dass 22 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs (1960–1996) wesentliche Voraussetzungen für Aufklärung und Strafverfolgung geschaffen werden.

 

Humanitäre Notwendigkeit

Für Chacón ist dies eine »humanitäre Notwendigkeit«. Ansonsten ist es um die Aufklärung solcher Verbrechen und die Verfolgung der Täter aber schlecht bestellt in Guatemala. Anschläge auf Anwälte und Menschenrechtler häufen sich wieder. 21 Morde an Menschenrechtlern hat die Menschenrechtsorganisation Udefegua in diesem Jahr bislang registriert, mehr als doppelt so viel wie in den Vorjahren. Die Regierung von Präsident Jimmy Morales hat nicht nur den Justizetat gekürzt, sondern Ende August auch das Mandat für die UN-Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) aufgekündigt. Im September 2019 müssen die UN-Ermittler, deren Aufgabe es ist, das Justizsystem zu stärken und der organisierten Kriminalität nachzuspüren, nun das Land verlassen.

 »Es sind die Angehörigen der Opfer, die zu uns kommen und uns bitten, Nachforschungen anzustellen.«
José Suasnavar, Leiter der FAFG

Für das Justizsystem und die Aufklärung der Bürgerkriegsverbrechen sei dies keine positive Entwicklung, sagt José Suasnavar, der Leiter der FAFG. Der studierte Archäologe hat vor gut 20 Jahren umgesattelt: Nun sucht er nicht mehr nach den Spuren alter Kulturen, sondern nach Stofffetzen, Metallsplittern und Knochen, die Aufschluss über den Verbleib von lange vermissten Verschwundenen geben können. »Es sind die Angehörigen der Opfer, die zu uns kommen und uns bitten, Nachforschungen anzustellen«, erklärt der 49jährige Familienvater. Angehörige waren es auch, auf die die Gründung der FAFG zurückgeht. 1991 hatten sich Angehörige von Verschwundenen an die lokalen Gerichtsmediziner gewandt, um die Öffnung verschiedener geheimer Gräber zu veranlassen. Doch es ging den Angehörigen zu langsam und sie waren mit den Ergebnissen nicht zufrieden, also wandten sie sich an den bekannten US-amerikanischen ­Forensiker Clyde Snow. Er kam mit einem internationalen Team nach Guatemala, nahm die Arbeit auf und begann umgehend mit der Schulung von guatemaltekischen Medizinern, Kriminalexperten und Ballistikern.

Das sei die Geburtsstunde der FAFG gewesen, die 1992 formell gegründet und 1997 in eine Stiftung umgewandelt wurde, sagt Suasnavar. Ein Bild des Gründers der Stiftung hängt am Eingang zum Labor, gegenüber vom Büro des Leiters. Suasnavar stieß Ende 1997 zum Team, weil er von einem Freund zu einem Fortbildungskurs eingeladen worden war. »Mich hat der Kontakt mit den Angehörigen begeistert und die Tatsache, dass unsere Arbeit einen direkten Effekt hat«, erinnert er sich. In seinem Büro finden sich viele Briefe, Fotos, bestickte Teppiche und andere liebevoll gefertigte Gegenstände, mit denen sich die Familienangehörigen der Exhumierten bedankten. Des Weiteren finden sich Fotos von ausgeho­benen Gräbern, auf denen die Konturen von Knochen, Schädeln und Kleidungsresten zu sehen sind.

 

Beweise für den Prozess
 

Exhumierungen stehen im Zentrum der Arbeit der Stiftung, die sich derzeit darauf konzentriert, auf ehemaligen Militärstützpunkten nach Opfern zu suchen. So sind auf dem Militärstützpunkt von Cobán Überreste von 558 Menschen gefunden worden, die auf dem Gelände, das immer noch einen Militärposten beherbergt, aus zahlreichen Gräbern exhumiert wurden. Comando Regional de Entrenamiento de Operactiones de Mantenimiento de Paz (Creompaz) heißt der Militärstützpunkt heute, früher hieß er Zona Militar 21. Dorthin wurden zahlreiche Menschen aus Guatemala-Stadt sowie aus der Umgebung von Cobán verschleppt. Zu Beginn der Ermittlungen wiesen die Militärangehörigen die FAFG-Mitarbeiter ab, erst auf Geheiß der Staatsanwaltschaft ließen sie sie auf das Gelände.

Die ablehnende Haltung der Armee verwundert nicht, denn der »Creompaz-Prozess« könnte einer der größten in der Zeit nach dem Bürgerkrieg ­werden. Allerdings geht es kaum voran. »Wir wissen derzeit nicht, ob und wann der Prozess eröffnet wird«, sagt Suasnavar schulterzuckend. Der Grund liegt auf der Hand, denn etliche der Militärangehörigen, die angeklagt sind, gehören der Regierungspartei von Präsident Morales an. Die Front der nationalen Versöhnung (FCN) ist eine von ehemaligen Militärangehörigen gegründete Partei, die kein Interesse an der Aufklärung der Verbrechen des 36 Jahre wütenden Bürgerkriegs hat. »200 000 Opfer hat der Bürgerkrieg gekostet, rund 45 000 weitere Menschen gelten als verschwunden und verborgene Gräber gibt es noch zuhauf«, sagt Suasnavar.

Ohne die Arbeit der FAFG wäre die Prozessvorbereitung unmöglich gewesen und die Forensiker arbeiten immer noch daran, weitere Opfer zu identifizieren. Mehr als 100 sind es bislang im Fall Creompaz. Ursprünglich rechnete man mit dem Fund einiger weniger Leichen, doch es wurden immer mehr. In der Geschichte der Stiftung, die seit 1992 die Überreste von über 7 000 Menschen exhumiert hat, kam dies bereits öfter vor. »Bis heute konnten wir die Identität von etwa 3 000 Toten zuordnen, an weiteren 2 000 Fällen arbeiten wir«, sagt Suasnavar und fährt fort: »Die Knochen ­reden mit uns, je mehr man sich mit ihnen beschäftigt.«

 

In die Datenbank

Um die Toten zum Sprechen zu bringen, werden sämtliche Überreste, komplette Skelette genauso wie einzelne Knochen, Kleidungsstücke und sonstige Gegenstände, nach Guatemala-Stadt gebracht und in der Zentrale der FAFG in der Avenida Simeón Cañas gereinigt, geröntgt, fotografiert und analysiert. Auf großen Tischen sind die Skelette dort aufgebahrt und werden von den Expertinnen und Experten analysiert. Das charakteristische Kreischen der Knochensäge ist immer wieder zu hören. »Wenn kein gesundes Zahnmate­rial zur Verfügung steht, fräsen wir ein Stück Knochen aus dem hinteren Oberschenkel«, erklärt Chacón. »In den Zähnen, im Schädel und im Oberschenkelknochen ist die DNA am längsten nachweisbar.« Chacón leitet ein Team von sechs Forensikern, hinzu kommen ein Fotograf und ein Radiologe, denn die Schädel werden oft geröntgt, um Kugelreste zu finden und Schädelverletzungen zu analysieren.

Die FAFG bewirbt auch DNA-Tests, um Angehörige aufzuspüren. 14 000 DNA-Tests lagern im Tresor im unscheinbaren zweiten Gebäude der Stiftung, das in einem Apartmenthaus aus den sechziger Jahren unweit des Präsidentenpalasts untergebracht ist. In den modernen Labors wird die DNA der Opfer mit jener potentieller Familienangehöriger verglichen. Dazu hat die Stiftung eine Datenbank mit den Erbinformationen von Opfern und suchenden Verwandten angelegt, die stetig ausgebaut wird. All diese sensiblen Daten lagern unter Verschluss. Das Labor ist mit gepanzerten Türen gesichert, der Zugang funk­tioniert nur über die Eingabe von Zahlencodes und die Daten-Backups lagern im Tresor einer Bank. Diese Vorkehrungen sind notwendig, denn in Guatemala sind diejenigen, die die blutige Bürgerkriegsgeschichte aufklären wollen, nach wie vor gefährdet.

»Die Identität der Leichen aufzuklären, ist unsere Berufung«, sagt Suasnavar. Doch die Mittel der Stiftung sind begrenzt. 2013, als der »Jahrhundertprozess« gegen den ehemaligen Diktator Efraín Ríos Montt lief, arbeiteten noch 150 Menschen für die Stiftung, heute sind nur noch 60. Es fehlt die Finanzierung, der Staat kommt für die Ermittlungsarbeit der FAFG nicht auf. Zwar gibt es einen Gesetzesvorschlag, der die Gründung einer Kommission für die Suche nach Verschwundenen vorsieht, doch der hängt im Kongress seit Jahren fest, weil der politische Wille fehlt. Die FAFG finanziert sich derzeit vor allen mit Hilfe internationaler Organisationen wie der UN und verschiedener NGOs wie dem katholischen Hilfswerk Misereor sowie Spenden.

 

Dank Jeans vor Gericht

Immerhin werden die Forensikerinnen und Forensiker seit dem Jahrhundertprozess von 2013 nicht mehr wie früher beschuldigt, einfach Tote des Erdbebens von 1976 auszugraben. »Das ist Geschichte, auch die Tatsache, dass die Opfer des Krieges zu weit über 80 Prozent Indigene waren, wird heute nicht mehr ernsthaft geleugnet – gleichwohl wird zu wenig ermittelt«, kritisiert ­Suasnavar. Er geht davon aus, dass es noch Arbeit für die nächsten drei Generationen geben wird.

Wie lange es dauern kann, bis ein Fall en detail aufgeklärt wird, zeigt der von Amancio Villatorre, den die Stiftung exemplarisch in einem kleinen Museum dokumentiert hat. Der Generalsekretär der Gewerkschaft beim Kaugummihersteller Adams in Guatemala-Stadt verschwand am 30. Januar 1984 spurlos. Die Familie des damals 47jährigen meldete ihn bei der Polizei als vermisst. »Dieses Datum deckt sich mit jenem aus dem Diario Militar.

Das ist ein Register mit den Namen von 183 Menschen, die die Streitkräfte zwischen August 1983 und März 1985 gewaltsam verschwinden ließen«, erklärt Suasnavar und deutet auf eine Zeittafel in dem kleinen Museum, das zur Stiftung gehört. Ein Plakat an der Tür weist den Weg zur Ausstellung, die an die Praxis des gewaltsamen Verschwindenlassens erinnern soll. Amancio Villatoro ist so ein Fall, denn der aktive Gewerkschafter wurde von der Armee auf offener Straße festgenommen, verschleppt und schließlich ermordet. Darüber gebe das »Diario Militar« Aufschluss, so Suasnavar. 1999 gelangte diese Liste, die die systematische Repression und Verfolgung in Guatemala belegt, an die Öffentlichkeit und wurde in der US-amerikanischen Zeitschrift Harper’s Magazine publiziert.

Gefunden worden war der Tote in einem Massengrab auf einem ehemaligen Militärgelände nahe Chimalte­nango. Auf die richtige Spur, um die Identität des Toten festzustellen, führte die Ermittler die Jeans des Opfers: »Das war eine Levi’s – so etwas war an dem Fundort, einer Militärbasis nahe Chimaltenango, ungewöhnlich. Also sind wir davon ausgegangen, dass es sich um einen Verschwundenen aus der Hauptstadt handelt«, erklärt Suasnavar. Seine Identität stellten die Forensiker Ende 2008 fest, drei Jahre später landete der Fall vor dem Interame­rikanischen Gerichtshof für Menschenrechte.