Imprint - Abdruck aus: »Unser großes Album elektrischer Tage«

Unser großes Album elektrischer Tage

Imprint Von Johanna Maxl

Eine Geschichte vom Verschwinden und zugleich die literarische Vermessung fluider Identitäten im 21. Jahrhundert: In Fragen und aufblitzenden Erinnerungen erzählt ein Kollektiv von Kindern die Suche nach der verschwundenen Johanna.

Kapitel 1
In diesem Jahrhundert verschwinden
Lügen, Lügen, Lügen
& 1 Hundebaby

Abends kamen die Menschen in ihren Autos, um Johanna mitzunehmen. Sie hörten laute Popmusik und manche von ihnen rauchten. Ihre Tätowierungen waren jedoch, selbst für unsere ungeschulten Blicke erkennbar, niemals geschmacklos. Zu dritt bauten wir uns vor ihr auf, als sie über den Rasen schritt. Wir sahen ihr tief in die Augen: Hör mal, du bist fast dreißig.
Ah ja. Sagte Johanna mit ihrer drohenden Stimme, das glaube ich aber nicht. Außerdem habt ihr keinen Schimmer, was das bedeutet, dreißig. Es bedeutet nämlich gar nichts, also aus dem Weg, ihr Zwerge. Haut ab.

Nachts weckte sie uns dann, wenn sie heimkam, drückte uns, dass unsere Rippen nur so krachten, erklärte: Ich habe euch wirklich furchtbar gern.
Eines Abends war da ein Mann, im Sommer, der ihr ein müdes, unendlich müdes Hundebaby schenken wollte.

Eines Tages verschwand sie. Im Winter. Sie vermutete wohl, unsere kleinen Köpfe würden über den Geschenken des folgenden Tages ihr Verschwinden verwinden. Nun fragen wir:

Warum verschwand sie? Wird sie je zurückkommen? Wird sie uns je wieder mit diesen abweisenden Küssen bedecken.

Als sie fort war, war uns, als fielen wir durch die Tage. Morgens, wenn wir aufwachten in unseren Betten, öffnete sich unter uns eine Luke, und aus ihr fielen wir in den Tag hinein und durch ihn hindurch, viele Stunden lang, bis auf dem Grund des Tages eine weitere Luke sich öffnete und wir zurück auf unsere Betten fielen.


Es war etwas Unfassbares, eine unfassbare Entfernung, eine Slåttdal-Schlucht, aber auch – immer unsichtbare! – Pole, Lastwagen und noch viel mehr, man könnte auch sagen, ein Höllenschlund, lagen all die Jahre zwischen dieser Johanna und, nun ja, allem anderen.
Da stand sie, da saßen wir, und sahen, wie ihr Po ganz leicht wackelte, wenn sie die Sahne schlug.
Wir also waren die Kinder dieser Frau. Das wollte uns nicht in den Kopf. Und auch sie selbst schien erstaunt, wenn sie sich dann umdrehte und uns erblickte.

Ihr also seid meine Kinder, schien ihr Blick zu sagen, aber wo verflixt kommt ihr denn her? Wie ist das denn zugegangen, dass ihr jetzt hier sitzt und mich aus euren Augen anschaut, ja ist es denn nicht so, dass wir einander misstrauisch beäugen, dass wir mitnichten sicher sind, ob uns gefällt, wen wir da sehen?
Dann kam sie mit der Sahneschüssel auf uns zu, und während sie auf uns zukam, da wankte die Welt, und gar nichts war mehr klar, alles konnte passieren. Das war ein schöner Zustand. Sie tat aber ganz still einem jeden einen Löffel Sahne zu seinem Apfelkuchen auf und setzte sich zu uns, während wir aßen.

Weiterlesen

Johanna Maxl arbeitete mit ihren literarischen Texten bislang vor allem intermedial, in Performances oder Installationen. Mit dem Künstler Jakub Šimčik leitet sie die interdisziplinäre Plattform Initiative Wort & Bild. Nach dem Studium am Deutschen Literaturinstitut ist sie Meisterschülerin in der Fachklasse für Intermedia an der Hoch­schule für Grafik und Buchkunst Leipzig. »Unser großes Album elektrischer Tage«, auch von der Performancegruppe James & Priscilla inszeniert, ist ihr Debütroman über fluide Identitäten im 21. Jahrhundert.