Gaspar Noés Film »Climax« ist schön gefilmt und doch wenig originell

La La Land auf Acid

In Gaspar Noés Film »Climax« bleibt der Höhepunkt aus.

Von Beginn an bestimmen Determinismus und Fatalismus »Climax«, den neuen Film des argentinisch-französischen Kinoextremisten Gaspar Noé. Wie einst sein wegen der perfiden, fast zehnminütigen Vergewaltigungsszene bis heute umstrittenster Film »Irreversibel« (2002) beginnt »Climax« mit dem Schluss: In extremer Aufsicht rennt eine leicht bekleidete, blutverschmierte Frau über ein makelloses, strahlend weißes Schneefeld. Sie stürzt, bricht zusammen und beginnt sich im Schnee zu winden. Zu ihren Schreien erklingt das von Gary Numan betörend verkitschte Synthie-Arrangement von Erik Saties »Trois Gymnopedies«. Nach der durch distanzierenden top shot und Melo-Score verklärten Todesszene rollen die Closing Credits in Windeseile durchs Bild. Der Anfang wird sich als schicksalsbestimmend erweisen, da er das Resultat einer Nacht der Gewalt vorwegnimmt. Genauer lässt sich von einer Vorzeitigkeit in der Zeitform des Futur II sprechen, insofern eine in der Zukunft liegende Handlung gezeigt wird: Eine Frau wird gestorben sein.

Die eindrucksvolle Kameraarbeit in »Climax« kann die wenig originellen, gar öden Dialoge nicht vollends wettmachen.

Direkt nach dem Abspann erscheint ein medienarchäologisches Ensemble. Im übervollen Regal steht in der Mitte ein Röhrenfernseher, flankiert von zahlreichen Büchern und VHS-Kassetten, die fröhlich assoziativ auf Noés Biblio- und Cinephilie verweisen: »Suspiria«, »Salò o le 120 giornate di Sodoma«, »Zombie«. Über die Mattscheibe flimmern kurze Videoclips, die Castinggespräche von Tänzern zeigen: Einer beschwört die Möglichkeit, im Tanz noch jemand anderes sein zu können, eine verkündet ihr nietzscheanisches Lebensmotto »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker«, eine andere will Berlin verlassen, weil es dort zu »fucked up« sei und zu viele Drogen gebe, sie möchte nicht wie Christiane F. ­enden. Recht schematisch etablieren die distanzlosen, ins Intime verrutschenden Bewerbungsgespräche die Themen des Films wie auch seine ­Figuren – eine Gruppe von nahezu zwei Dutzend jungen Tänzerinnen und Tänzern, die sich nach einer Probe für eine bevorstehende USA-Tournee einer Party hingibt: freaky, cheesy, völlig überdreht.

In dem bereits auf den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes prämierten Film bezieht sich Noé auf ein wahres Ereignis, das sich im Jahre 1996 ereignete, doch bildet dies nur einen Ausgangspunkt für seine audiovisuellen Attraktionen, die das wenig entwickelte Drehbuch und die noch weniger entwickelten Dialoge nicht komplett kaschieren können. Nach der kurzer Einführung geht die Geschichte überraschend geradlinig los und begibt sich unmittelbar an den Ort des Geschehens, an einen abgelegenen, nicht vertrauenswürdig ausgeleuchteten Probesaal. Einen Ort, an dem ein Glitzervorhang in den Farben der Trikolore schillert und den der Film nicht wieder verlassen wird. In virtuosen, technisch brillant inszenierten Plansequenzen zelebriert der Film die hyperchoreografierten Tanzszenen mit rhythmisch zuckenden Leibern, gespreizten Gliedmaßen und akrobatischen Verrenkungen. Tänzer, die sich formieren, nähern, entfernen. Körper, die sich begegnen, bedrängen, begehren, dazu ein höllisch lauter EDM-Soundtrack.

Immer wieder betrachtet die Kamera das Spektakel unbewegt von oben aus einem übermenschlichen 90-Grad-Winkel und verweilt schwelgend in langen Sequenzen, um sich dann wieder abzusenken und in einer schwerelosen Eleganz zwischen den einzelnen Tänzern umherzuschweifen. Zu einer elektrisierenden Instrumentalversion von Cerrones »Supernature« setzt Noés belgischer Stammkameramann Benoît Debie eine psychedelisch pulsierende ­Performance ins Bild. Einzelne Tänzer werfen sich zu hypnotischen Techno-Beats ins Blickfeld seiner Kamera, andere vollführen trance­artige Bewegungen. Inmitten dieser Darbietung entfaltet sich eine Kollektiv­ekstase.

Die rasante Enthemmung der Körper wird obszöner, die Posen lasziver und die Gesten anzüglicher.

Die Atmosphäre ist unheilvoll und gereizt, die Tänzer werden zusehends unfä­higer, miteinander zu kommunizieren und zu interagieren. Vielmehr bricht sich unterschwellige Aggression Bahn. Eine mit LSD gepanschte Sangria-Bowle induziert paranoides Verschwörungsdenken, das aus der Gruppe einen Mob macht. Es kommt zu offener Gewalt, zu Neid und Niedertracht, zu Panikattacken.

 

Wie die Tanzenden scheint auch die Kamera nach und nach ihren Halt zu verlieren. Nahezu ohne Schnitt folgt sie einzelnen Figuren in einem an die Dogma-Filme erinnernden Schlingerkurs durch die schattigen, bedrohlich einfarbig beleuchteten Korridore und Kabinen, kreiselt durch das immer gespenstischer wirkende Gebäude, erhascht wie beiläufig derbe Sexpraktiken. Sie stolpert und kippt, stützt sich kopfüber ins Geschehen, richtet sich wieder auf und macht Pirouetten – als wäre sie selbst berauscht und in einem schwindelerregenden Delirium.

Dieses Schlingern der Kamera ist ein Angriff auf das kontrollierte und kontrollierende Sehen und als Übergriff inszeniert. Debies Kamera hebt die Bilder aus den Angeln in immer extremere Schräglagen, um sie schließlich ganz auf dem Kopf stehen zu lassen – Georg Baselitz lässt grüßen.

Wie die Party mitsamt ihrer Gäste läuft nicht nur die Kamera aus dem Ruder. Das Grauen spielt sich auch außerhalb des Sichtfeldes ab: Zu der permanent wummernden Musik ertönt ein diabolischer Sound, aus dem Jenseits des Bildrahmens, aus dem sich immer wieder Schreie und Schluchzer vernehmen lassen.

»Climax« erzählt wenig, aber das zumindest in der ersten Hälfte des Film einnehmend und bildgewaltig. Die eindrucksvolle Kameraarbeit kann die wenig originellen, gar öden Dialoge aber nicht vollends wettmachen. Noés Darsteller sprechen kaum, und wenn sie sprechen, dann nur in hohlen Phrasen und schalen Floskeln. Sie bleiben seltsam flache und konturlose Wesen – ohne Geschichte, ohne Selbst. In den plumpen, libidinös aufgeladenen Partygesprächen werden mitunter sexistisches Im­poniergehabe und rassistische Stereotype gezeigt und »toxische Männlichkeitsbilder« entworfen.

Interpunktiert oder besser fragmentiert wird der Film immer wieder von Texteinwürfen, die in ihrer ­Kalenderspruchhaftigkeit nicht mal mehr zu psychophilosophischen Provokationsgesten taugen:

»Être est une illusion fugitive« (»Das Sein ist eine flüchtige Illusion«) oder auf dem Kopf stehend »Mourir est une expe­rience extraordinaire« (»Sterben ist eine außergewöhnliche Erfahrung«) – um nur zwei dieser Plattitüden zu nennen. Auch die mannigfachen Referenzen, die der Film von Anfang an generös ins Bild setzt, wirken allzu selbstverliebt.

Statt einer Klimax, die der Titel großspurig ankündigt, liefert der Regiebürgerschreck Noé einen ebenso fulminanten wie auch faden Film mit großartigen Tanz- und Kamerabewegungen ab, dessen Dialoge und Texteinblendungen höchst banal geraten und der auch die Redundanzen des Rauschs nicht ausspart. Ob »Climax« auf eine Dekonstruktion oder doch auf eine Apotheose des Rauschs zielt, kann kaum geklärt werden, da sich Noés Film nicht auf eine eindeutige Aussage festlegt. Dass in ihm Mechanismen der Verführung immer wieder mit Missbrauch kurzgeschlossen werden, ist einigermaßen enervierend. Dass Rausch in »Climax« nicht einfach mit Freiheit, sondern auch mit Gewalt und Monotonie zusammenfällt, war von Anfang an vorherbestimmt: Eine Feier wird geendet haben.

 

Climax (F/USA 2018). Buch und Regie: ­Gaspar Noé. Darsteller: Sofia Boutella, ­Romain Guillermic. Filmstart: 6. Dezember