Drew Penrose von der Organisation »Fair Vote« im Gespräch über das Wahlsystem der USA

»Das Grundproblem ist das Prinzip ›the winner takes all‹«

Interview Von Emanuel Bergmann

Drew Penrose leitet die Rechts- und Politikabteilung der parteiunabhängigen Organisation »Fair Vote«, die sich in den USA für eine Reform des Wahlsystems und für mehr demokratische Mitbestimmung einsetzt.

Vergangene Woche fanden in den USA die letzten Stichwahlen im Zuge der Midterm-Wahlen statt. Immer wieder wird Kritik am Wahlsystem laut. Was sind dessen Probleme?
Es gibt beispielsweise einige Bundesstaaten, in denen Menschen mit Vorstrafen ihr Wahlrecht auf Lebenszeit entzogen wird. Die USA stehen im ­internationalen Vergleich in dieser Hinsicht schlecht da. Aber auch innerhalb des Landes gibt es starke Abweichungen. In den meisten Bundesstaaten dürfen Sträflinge erst nach Ablauf ihrer Haftzeit wieder zur Wahl gehen.

»Die Tatsache, dass in den meisten Wahlkreisen eine Partei ein Monopol hat, ist an sich schon ein Problem.«

Manchmal benötigen sie sogar eine spezielle Erlaubnis vom Gouverneur oder von einem anderen Staatsbeamten. Darüber hinaus haben wir ein »Opt-in«-System, also ein Wahlsystem, dem man als Wähler zuerst beitreten muss.

In den meisten anderen Ländern ist man automatisch wahlberechtigt. In den Ver­einigten Staaten muss man sich erst registrieren, um wählen zu können, und dabei kann es zu Fehlern kommen. Jedes Jahr hört man, dass Menschen bei der Wahl abgewiesen werden. In manchen Bundesstaaten werden einfach Wählerinnen und Wähler aus den Wahllisten entfernt, weil man glaubt, dass sie nicht mehr an den Wahlen teilnehmen können oder wollen. Das ist juristisch fragwürdig. Und angeblich kam es dieses Jahr in Georgia, Florida und anderen Bundesstaaten zu Problemen. In Florida war beispielsweise in einem Wahlbezirk der Stimmzettel unklar entworfen, eine große Anzahl von Wählerinnen und Wählern hatte ihn daher nicht komplett ausgefüllt.

Worauf sind diese Probleme zurückzuführen?
Es liegt daran, dass praktisch alle Entscheidungen zur Wahl auf Gemeindeebene getroffen werden. Wir haben in den USA kein einheitliches Wahlrecht. Stattdessen haben wir Tausende von unterschiedlichen Regeln. Sie können sich vorstellen, dass das zu sehr ernsten Problemen führen kann.

In einem Bericht des Geheimdienstausschusses des US-Senats steht, dass bei der Präsidentschaftswahl 2016 russische Hacker in die digitale Infrastruktur von insgesamt 17 Bundesstaaten eingedrungen seien. Ist es da nicht von Vorteil, wenn die Wahlsysteme dezentralisiert sind?
Das kann schon sein, nur funktioniert unser Wahlsystem nach dem Prinzip »the winner takes all«, so dass der Wahlsieger etwa alle Sitze in einem Wahlkreis oder Bundesstaat bekommt. Der Präsident wird vom Electoral College ­gewählt, den versammelten Wahlleuten (früher als »Wahlmännerkollegium« übersetzt, Anm. d. Red.). Wenn jemand eine Präsidentschaftswahl beeinflussen will, kann er sich auf eine kleine Zahl sogenannter swing states konzentrieren, in denen mal die Demokraten, mal die Republikaner gewinnen. Die potentiellen Ziele sind leicht zu identifizieren.

Bei den Ermittlungen zur Einflussnahme Russlands auf die Wahlen 2016 wurde festgestellt, dass die Hacker wussten, welche Bundesstaaten am ehesten die Wahl entscheiden würden. Würde der Präsident direkt gewählt, wäre so etwas unmöglich. In den meisten europäischen Ländern gibt es ein proportionales Wahlsystem, aber bei uns bekommt der Wahlsieger alles. Bei den Kongresswahlen, beispielsweise den Midterm-Wahlen, ist es ähnlich. »Fair Vote« hat festgestellt, dass 80 Prozent aller Bundeswahlkreise fest in den Händen einer der beiden Volksparteien sind.

Was kann man dagegen tun?
Wir treten für eine Wahlreform ein, für eine »Ranglistenwahl«, auch instant-runoff voting genannt.

Was ist das?
Die Wählerinnen und Wähler geben auf dem Stimmzettel eine Rangfolge der bevorzugten Kandidaten an. Wenn nach der Auszählung für Platz eins noch ­keine klare Mehrheit besteht, wird der Kandidat mit den wenigsten Stimmen gestrichen, und der nächste rückt nach. Und so weiter, bis jemand eine Mehrheit hat. Dieses System wird immer öfter angewandt, und »Fair Vote« ist in dieser Frage ein Vordenker. Als ich 2012 zu »Fair Vote« kam, war die Organi­sation noch viel kleiner. Nun wird den Wahlen und dem Funktionieren der Demokratie in den Vereinigten Staaten mehr Aufmerksamkeit gewidmet und es wurden einige Möglichkeiten aufgezeigt, wie das System verbessert werden könnten.

Was sollte konkret getan werden, um die US-amerikanische Demokratie zu stärken?
Wir brauchen bessere Mindeststandards. Unser Ausgangspunkt ist die Verfassung der Vereinigten Staaten, speziell die equal protection clause, die Schutzklausel, die es verbietet, jemandem willkürlich das Wahlrecht zu entziehen. Die Verfassung verbietet es beispielsweise, das Wahlrecht aufgrund von Hautfarbe, Religion oder Geschlecht einzuschränken. Damit hat sich »Fair Vote« stets beschäftigt, aber in letzter Zeit konzentrieren wir uns verstärkt auf das Wahlsystem an sich. Wir sprechen also nicht mehr nur über Schwachstellen, sondern darüber, dass das derzeitige System für Probleme anfällig ist. Die Tatsache, dass in den meisten Wahlkreisen eine Partei ein Monopol hat, ist an sich schon ein Problem.

Sie meinen das »gerrymandering«?
Ja. Beim gerrymandering werden die Grenzen der Wahlkreise so gezogen, dass die Stimmen für die schwächere Partei über mehrere Wahlkreise verteilt werden, dadurch wird diese Partei noch weiter geschwächt. In manchen Bundesstaaten entscheidet eine unabhängige Kommission über die Grenzen dieser Wahlkreise. Aber meistens liegt die Entscheidung beim Parlament des jeweiligen Bundesstaats, also kann dieser Vorgang auch parteiisch sein.
Dazu kommt, dass die Wähler der beiden US-Volksparteien ungleich verteilt sind. Die Demokraten leben vorwiegend in von der Ausdehnung her kleineren Bezirken, also eher in Städten, die Republikaner sind weiter über das Land verteilt. Wir brauchen eine landesweite Direktwahl bei den Präsidentschaftswahlen und ein System der Proporzwahlen für das Repräsentantenhaus. Letzteres wäre ähnlich wie in Deutschland. Natürlich nicht identisch, sondern eben den USA angepasst – und vor allem fair.

Ist das realistisch? Das Electoral College lässt sich nicht einfach so abschaffen.
Hier ist es von Vorteil, dass Wahlen in den USA dezentralisiert sind. Dieses Jahr hat der Bundesstaat Maine erstmals instant-runoff voting bei den Repräsentantenhaus- und Senatswahlen eingesetzt. Die Verfassung schreibt uns nicht vor, wie genau wir zu wählen haben. Die verschiedenen Bundesstaaten haben das Recht zu experimentieren. Ich denke, dass sich mehr und mehr Staaten für instant-runoff voting entscheiden werden. Es ist bislang sehr gut gelaufen. So können wir in einem föderalistischen System neue Ideen ausprobieren.

Was das Electoral College angeht: Die Verfassung gesteht jedem Bundesstaat das Recht zu, die jeweiligen Wahlleute nach einem eigenen System zu ermitteln. Wir nähern uns sehr schnell dem Ziel, dass die Präsidentschaftswahlen durch Direktwahl entschieden werden, auch wenn das Electoral College noch besteht.

Man hört immer wieder davon, dass es mit Wahlgeräten Probleme gibt. Worum geht es da?
An vielen Orten werden veraltete Wahlgeräte benutzt. Solche Geräte sind sehr teuer, sie werden von Privatfirmen hergestellt und von den jeweiligen Wahlkreisen dann lizenziert. Das heißt, dass die technischen Hilfsmittel für unsere Wahlen von gewinnorientierten Unternehmen hergestellt werden. Drei ­davon beherrschen in den Vereinigten Staaten den Markt weitgehend.

Das klingt problematisch.
Finde ich auch. Wir haben Berichte gehört, dass in einigen Fällen die Touchscreen-Wahlgeräte nicht richtig funktioniert haben. In den meisten Wahl­lokalen arbeitet man noch mit Papier, die Wählerinnen und Wähler füllen ­einen Kreis aus, und das Papier wird dann gescannt. Aber in den Neunzigern sah man Touchscreen als die bessere Technologie an, das war ein neuer Trend.

Das Problem dabei ist, dass es keine Möglichkeit gibt, das Ergebnis später zu überprüfen. Als ich dieses Jahr in Washington gewählt habe, tat ich das mit Touchscreen, aber ich bekam ­einen Zettel ausgedruckt, und den habe ich dann abgegeben. Ich habe also ­sowohl mit Touchscreen als auch mit Stimmzettel gewählt und konnte diesen noch einmal überprüfen. So ein System ist vor allem für Menschen mit ­Behinderungen gut, weil es für sie mitunter schwierig sein kann, den Stimmzettel ohne Hilfe auszufüllen. Das Touchscreen-Verfahren ermöglicht es allen Mitbürgern, gleichberechtigt mitzumachen. In Los Angeles und San ­Francisco haben die Gemeinden angefangen, ihre eigenen Wahlgeräte zu entwickeln, damit diese dann nicht einer Privatfirma gehören, sondern der Bevölkerung. Die Software dazu soll dann Open Source sein, damit man den Code überprüfen kann. Solche Trends setzen sich immer mehr durch.

Wie würden Sie den Zustand der US-amerikanischen Demokratie heute beurteilen?
Es gibt einige Aspekte der US-amerikanischen Demokratie, die sich in einem sehr traurigen Zustand befinden, das muss ich leider zugeben. Das grund­legende Problem bei unseren Wahlen ist das Prinzip »the winner takes all«. Es schafft allerlei schlechte Anreize für politische Entscheidungsträger und lässt zu viele Wählerinnen und Wähler außen vor. Aber es gibt auch positive Aspekte. Ich würde sagen, dass das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an Wahlen enorm gestiegen ist. Die Menschen gieren regelrecht nach besseren Wahlen. Bei den Midterm-Wahlen 2018 haben viele für eine Wahlreform in ­ihren Bundesstaaten gestimmt. Die Menschen wollen ein faires System.
Interview: Emanuel Bergmann