Keir Milburn und Nadia Idle von der Gruppe Plan C, im Gespräch über Mark Fishers Begriff des »Acid-Kommunismus«

»Die Linke ist keine Insel«

Interview Von Morten Paul

Kurz vor seinem Tod hatte der britische Essayist und Kapitalismuskritiker Mark Fisher die Arbeit an einem Buch über den »Acid-Kommunismus« begonnen. Keir Milburn und Nadia Idle von der Gruppe Plan C, der auch Fisher angehörte, setzen die Beschäftigung damit fort und veranstalten Workshops, in denen es um die Befreiung von den Denkblockaden im Neoliberalismus geht.

Neuerdings geistert in der britischen Linken der Begriff »Acid-Kommunismus« herum. Was hat es damit auf sich?
Keir Milburn:
Die Herkunft des Begriffs »Acid-Kommunismus« lässt sich genau rekonstruieren. Mark Fisher ist irgendwann über ein Interview mit dem britischen Schauspieler David Tennant gestolpert, in dem es um den Film »Mad to Be Normal« ging. Tennant spielt darin den Psy­chiater beziehungsweise Antipsychiater R.D. Laing. Tennant nennt Laing in dem Interview einen »Acid-Marxisten«. Und Mark sagte, das ist genau, was ich versuche zu formulieren! Zu diesem Zeitpunkt saß Mark schon seit einiger Zeit an einem Buch über postkapitalistisches Begehren, also Verlangen und Wünsche, die zwar in der gegenwärtigen Situation produziert werden, deren Erfüllung aber über die kapitalistischen sozialen Beziehungen hinausweisen würde. Mark ist ein wenig älter gewesen als ich, aber wir wurden beide mit Post-Punk groß und lehnten die Gegenkulturen der sechziger und siebziger Jahre als Hippie-Quatsch ab. Nun wandte er sich genau diesen zu und begann, sie einer Neubewertung zu unterziehen. Der Grund dafür war vermutlich, dass wir in eine Krisensituation geraten waren. Die Krise von 2008 war ja nicht nur eine ökonomische Krise, sondern die Krise einer ganzen, fast totalitären Weltsicht, der des Neoliberalismus. Und die siebziger Jahre sind die letzte vorhergehende, vergleichbare Periode einer anhaltender Krise, in der eine Form der gesellschaftlichen Ordnung zusammenbricht und eine neue Ordnung entsteht. Aus dieser Perspektive begann Mark, die historischen Gegenkulturen als ein riesiges Massenexperiment zu begreifen, in dem freiheitliche und demokratische Lebensweisen erprobt wurden, als so etwas wie eine massenhafte Bewusstseins­ausdehnung oder Bewusstseinserweiterung. Umgekehrt führte ihn das dazu, den Neoliberalismus als Projekt der Bewusstseinseinschränkung oder -beschränkung zu verstehen. Zumindest auf einer bestimmten Ebene kann man den Neoliberalismus ja tatsächlich als Projekt beschreiben, die Möglichkeiten menschlicher Existenz auf ein einziges Modell zu reduzieren. Was Mark in seinem wahrscheinlich bekanntesten Buch, »Kapitalistischer Realismus ohne ­Alternative?«, dargelegt hat, zeigt sich im Rückblick als das, wohin man kommt, wenn dieses Projekt erfolgreich war. Es ist also kein Zufall, dass Mark genau in dem Moment, in dem dieses Modell selbst in die Krise gerät, noch einmal in die Vergangenheit blickte.

»Psychedelika waren ein wichtiger Bestandteil der Gegenkulturen. Aber auch ganz konkret ist LSD eine materielle Technologie, die es erlaubt, die eigene Weltsicht zu denaturalisieren.«


Nadia Idle: Für mich ist »Acid-Kommunismus« aber nicht nur eine Art, den Neoliberalismus oder die Gegenkulturen neu zu interpretieren. Ich finde die Formel attraktiv, weil ich darunter eine Praxis verstehe: Es geht um die Art und Weise, wie wir miteinander reden, wie wir unsere Treffen durchführen, wie wir uns auf andere Menschen beziehen. Ein bisschen klingt die Verbindung von »Acid« und »Kommunismus« ja wie ein Witz: Wenn du beide zusammenpackst, verändert das sowohl deine Vorstellung davon, was »Acid« ist, als auch deine Idee davon, was »Kommunismus« ist. Ich glaube, das ist für viele Leute eine Provokation und das ist gut so. Ich will herausfinden, was eine freudige, eine lust­volle Linke sein könnte, eine Linke, die nicht gebrochen ist durch ihre jetzt gut 40jährige Geschichte von Niederlagen, eine Linke, die sich nicht beständig in christlich-calvinistischer Ernsthaftigkeit ergeht. Es ist wichtig, Gegenmacht aufzubauen, aber es ist nicht egal, wie wir uns dabei aufeinander beziehen.

Radfahren verboten

Bewusstseinserweiterndes Radfahren verboten

Bild:
mauritius images / Eden Breitz

In Mark Fishers Analyse der Siebziger spielt das Klassenbewusstsein eine große Rolle. Die Gegenkulturen haben dabei eine doppelte Rolle: Einerseits sind sie für junge Proletarier ein Mittel, um eine Klassenidentität, auch Klassenstolz, zu entwickeln. Sie sind in jedem Fall antibourgeois. Sie wandten sich aber zugleich gegen den Arbeitsfetisch der traditionellen Arbeiterbewegung mit all den sozialen und kulturellen Beschränkungen des fordistischen Klassenkompromisses.
KM:
Es gibt eine Debatte innerhalb der Demokratischen Sozialisten Amerikas, die als Organisation im Rahmen der Kampagne von Bernie Sanders in den letzten Jahren stark gewachsen ist: Normie-Socialism versus Weirdo-Socialism. Die eine Position geht ungefähr so: Wir müssen aufhören, als Linke so seltsam zu sein und uns an der Lebensrealität der Arbeiterklasse orientieren. Als Erwiderung hat Peter Fraser einen Blogpost mit dem Titel »keep socialism weird« geschrieben. Den Podcast, den Nadia, ich und ein paar andere Leute machen, ACFM, nennen wir »home of the weird«.
NI: Was ich einen guten Namen finde, obwohl mich die ganze Debatte, Weirdo-Linke versus Normalo-Linke, nervt. Die Linke ist die Linke aufgrund ihrer Überzeugungen und ihrer Handlungen. Die meisten Menschen in England haben keine Macht, über ihr Leben selbst zu bestimmen. Aber sie verstehen sich vielleicht aufgrund ihrer Lebensweise, ihres Hintergrunds oder warum auch ­immer nicht als Arbeiterklasse im traditionellen Sinne. Ich möchte, dass all diese Leute Linke sein können, wenn sie wollen. Das bringt mich zurück zu Mark: Seine Idee des red plenty, einer roten Fülle oder ­eines roten Reichtums, ist absolut zentral für mein Verständnis von Acid-Kommunismus: Wir sorgen für dich, egal wer du bist, egal, wo du herkommst. Die Linke kann ein wirklich großer Ort sein. Sie ist keine Insel, von der wir Leute runterwählen.
KM: Ich glaube, es gibt noch eine andere Dimension dieser Debatte. Wenn du die Welt radikal verändern willst, wird das auch beinhalten, dich selbst radikal zu verändern. Manchmal mag es eine Gruppe von Menschen geben, die mit Lebensweisen expe­rimentiert, die viele Leute ungewöhnlich oder sogar lächerlich finden werden. Deshalb mag ich die Idee einer seltsamen Linken, einer »weird left«.
NI: Aber du magst den Begriff aus den gleichen Gründen, aus denen du »Acid-Kommunismus« magst. Er ist provokativ, nicht langweilig, nicht trocken, er ist ein bisschen prätentiös, deswegen bin ich glücklich damit.

Der Begriff »Acid« dürfte viele Linke in diesem Zusammenhang irritieren.
NI: Wenn wir den Neoliberalismus als ein Projekt der Bewusstseinsbeschränkung verstehen, den kapitalistischen Realismus als einen Zustand, in dem du nichts weiter sehen kannst als die tägliche Plackerei, dann bewirkt eine bewusstseinserweiternde Droge wie LSD das Folgende: Plötzlich erscheint möglich, was zuvor unmöglich, unveränderbar erschien. Und wenn wir eine Politik machen wollen, die über den ­kapitalistischen Realismus hinaus geht, dann können wir das nur durch Praktiken, die uns erlauben zu erkennen, dass es eine Zukunft gibt, in der die beschränkten sozialen Beziehungen, die der Neoliberalismus uns aufzwingt, nicht das Ende sind.
KM: Psychedelika waren ein wichtiger Bestandteil der Gegenkulturen, besonders in ihren kalifornischen Varianten. Aber auch ganz konkret ist LSD eine materielle Technologie, die es erlaubt, die eigene Weltsicht zu denaturalisieren.
 

 

Acid Smiley

Acid-Smiley oder trocknende Pfütze: In jedem Fall sieht man Licht am Ende des Tunnels

Bild:
mauritius images / Christian Ohde

Was passiert in euren Workshops?
KM: Es gibt diesen Text »We Are All Very Anxious« von 2014, der überall kursierte. Er endete mit dem Gedanken, dass viele der Dinge, die in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern passiert sind, die Strategien, die Linke in dieser Zeit benutzten, Technologien waren, um die Langeweile zu bekämpfen. Aber wir leben nicht mehr in der Welt der Langeweile, wie sie in der fordistischen Fabrik sinnbildlich geworden ist. Wir leben in einer Welt der Unsicherheit und Prekarität. Der Text schlägt deshalb vor, »consciousness raising«-Gruppen zu gründen, in denen die kollektive ­Dimension dieser Unsicherheit sichtbar wird, so wie es die zweite Welle des Feminismus in den siebziger Jahren getan hatte, um die kollektive ­Dimension der Frauenunterdrückung zu erkennen. Plan C hat also versucht, solche Gruppen zu gründen. Das hatte Einfluss darauf, wie Mark, der damals Mitglied bei Plan C war, über die Gegenkulturen nachgedacht hat. Es ist also nicht nur so, dass die Idee, »consciousness raising«-Gruppen zu gründen oder Workshops durchzuführen, auf Marks Arbeiten zum »Acid-Kommunismus« zurückgeht, sondern dass ihre Wiedererfindung als Praxis umgekehrt auch sein Denken über die Gegenkulturen inspiriert hat. Als Mark starb, hatte er erst die Einleitung des geplanten Buchs verfasst, es gab noch ein paar Interviews und Vorträge. Wir hatten aber den Wunsch, weiter mit Marks Ideen zu arbeiten.
NI: Ich habe immer noch meine Probleme mit dem Begriff postkapitalis­tisches Begehren. Ich würde das Ganze so übersetzen: Was sind die Dinge, die du in deinem Leben nicht verwirklichen kannst? Indem wir gemeinsam diese Frage diskutieren, werden die konkreten Einschränkungen, die genau das verhindern, sichtbar. Die Hoffnung ist, dass dieser Prozess selbst transformativ ist. Ich glaube, es ist wichtig, den Unterschied zu anderen Fragen, wie sie in der Linken diskutiert werden, deutlich zu machen. Etwa: Was wäre eine linke Wirtschaftspolitik, wie sollen wir mit dem Defizit umgehen, oder was machen wir mit dem Geld? Ich sage nicht, dass das keine wichtigen Fragen sind, aber sie lassen außen vor, dass unsere Alltag im Neoliberalismus eine echte Barriere ist, unsere Beziehungen in einer Weise zu führen, die nötig ist, um als politische Akteure wirksam zu sein.
KM: Ein klassisches Beispiel sind Schulden, denn Schulden sind ein Mittel, Kontrolle auszuüben, indem ein Konflikt in die Zukunft verlagert wird. Wenn du dir die Platzbesetzungen in Spanien anschaust, oder den Schuldenstreik, der aus Occupy Wall Street hervorging: Sie alle haben mit Schuldnerversammlungen angefangen, eigentlich so etwas wie riesigen »consciousness raising«-Gruppen.

Es geht also auch darum, eine Politik der Sorge innerhalb der radikalen Linken zu erneuern?
NI: Ich verstehe schon, warum viele Leute in der Linken irgendwann angefangen haben, die Konzentration auf die eigene Erfahrung zu problematisieren und gesagt haben: Scheiß drauf, wir werden die Faschisten nicht dadurch besiegen, dass wir ständig über unsere Gefühle reden. Aber ich denke, es muss Orte geben, in denen wir über unsere gemeinsamen Erfahrungen im kapitalistischen Alltag reden können, Praktiken, in denen wir herausfinden, was das mit unserem Verstand macht, was das mit unserer Fähigkeit macht, kollektiv zu sein, was das mit unseren Vorstellungen von der Zukunft macht. Wenn die einzige Zeit, in der du – wenn überhaupt – darüber sprechen kannst, wie es sich für dich anfühlt, Schulden zu haben, deine Therapiesitzung ist, dann macht die Linke ­etwas falsch!
KM: Wir wollen einen lebbare Linke. Die muss allerdings skalierbar sein. Uns interessiert nicht, das Ganze in eine Subkultur zu verwandeln. Vielleicht kann man es andersherum ­sehen: Praktiken, die einmal subkulturell schienen, können – die Gegenkulturen haben das gezeigt – Massenpolitik werden.
NI: Ich bin sehr defensiv, was meine Zeit, meine geistige Verfassung, meinen Raum angeht. Deshalb ist es mir wichtig, uns so zu organisieren, dass wir das neoliberale Schrapnell, das in unsere Richtung fliegt, aushalten oder sogar abwehren können. Ich glaube, eine Art Resilienz, eine auch kollektive psychische Widerstandskraft ist dafür notwendig.

Die Beispiele zur Neubewertung der poltitischen Implikationen der Gegenkulturen, die Mark Fisher heranzieht, sind aus den Sechzigern, die Beatles, die Temp­tations, Mod-Kultur. Was sind ­aktuelle Bezugspunkte für einen Acid-Kommunismus?
KM: Mark hat an so etwas wie einen populären Modernismus gedacht. Es gab eine Zeit im Nachkriegskompromiss, in der Kultur zumindest teilweise von Kindern aus der Ar­beiterklasse und der unteren Mittelschicht produziert und dominiert wurde. In England kann man das besonders gut nachvollziehen. Das ist heute nicht mehr der Fall, und damit ist auch sein Gedanke, dass insbesondere Musikmachen eine Möglichkeit war, mit anderen, freiheit­licheren Lebensformen zu experimentieren, nicht mehr aufrechtzuerhalten, und zwar ziemlich genau ab dem Zeitpunkt, als der Sozialstaat in den achtziger Jahren zerlegt wurde. Ich bin mir insgesamt nicht sicher, was ich von diesem Argument halte. Ich finde es verführerisch und nützlich, um darüber nachzudenken, dass es materielle und soziale Voraussetzungen dafür gibt, mit Freiheit zu experimen­tieren.

In einem Artikel hast du »Acid Corbynism« einmal als Einstiegsdroge bezeichnet, Keir. Was ist ­damit gemeint?
NI:
Bei Plan C gibt es ganz unterschiedliche Einstellungen zu Labour und Jeremy Corbyn. Ich für meinen Teil bin völlig ohne Scham ein überzeugtes Mitglied von Labour und von Momentum. Ich habe gar kein Problem damit, zugleich an meinen autonomen marxistischen Überzeugungen festzuhalten. Es ist nicht so, dass wir unsere Politik an Labour angepasst haben, Labour hat sich uns angepasst. »Corbynism« handelt nicht von Jeremy Corbyn: Klar gibt es ein paar Leute, die in ihm einen Heilsbringer sehen. Meine Idee, was »Acid« und »Corbyn« gemeinsam haben, ist aber die: Als es 2017 eine reale Chance gab, dass die Labour-Partei die Regierung stellen könnte, in der eine Reihe von Linken sitzt, deren Politik der unseren im Prinzip sehr ähnlich ist, hat das ein psychologisches Fenster geöffnet. Das brach mit der Vorstellung, Austerität und den Aufstieg der Rechten zu akzeptieren, sei unabwendbar. Das hat den Leuten die Augen geöffnet, so ähnlich wie das eben auch LSD tut. Natürlich gibt es Grenzen, das soll hier keine Verteidigung parlamentarischer Politik sein. Aber wir sollten als Linke wahrnehmen, was die Stimmung im Land war, was der Erfolg von Labour und von Corbyn für ein gigantisches »Fuck You« in Richtung des Establishments und den Mainstream-Medien bedeutet hat.
 

Im Herbst 2019 erscheint in der Edition ­Tiamat eine deutsche Übersetzung der kürzlich bei Repeater Books erschienenen Sammlung von Mark Fishers wichtigsten und unveröffentlichten Texten. »K-Punk. Ausgewählte Schriften, 2004-2016« wird auch die Einleitung zu seinem geplanten, aber nicht mehr verwirklichten Buch »Acid Communism« enthalten.