Toma Luntumbue, Kunsthistoriker, im Gespräch über die Wiedereröffnung des Afrika-Museums Tervuren bei Brüssel

»Tervuren ist kein Sonderfall«

Interview Von Andreas Dietl

Toma Muteba Luntumbue ist Professor für Kunstgeschichte an der Brüsseler École de recherche graphique/École supérieure des arts und freiberuflicher Kurator. Luntumbue wurde 1962 in Kinshasa geboren, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo (RDC). Als Künstler schafft Luntumbue Installationen, Videos, Skulpturen und Zeichnungen, in denen es oft um konstruierte Identitäten geht und den Wandel, dem diese unterliegen. 2017 war Luntumbue künstlerischer Direktor der fünften Biennale von Lubumbashi.

Sie sagten einmal, Sie hätten Schwierigkeiten, sich vorzustellen, dass das Africa Museum, wie es jetzt heißt, zu einem sozialen und kulturellen Orientierungspunkt der afrikanischstämmigen Bevölkerung Brüssels werden könnte. Wenn man sich die Kommunikation des Museums ansieht, gewinnt man aber den Eindruck, dass genau das gerade passiert. Es scheint viel getan zu werden, um die afrobelgische Bevölkerung dort einzubeziehen.
Das ist nur eine neoliberale Kommunikationsstrategie des Museums: Man integriert den Diskurs, zu dem man im Widerspruch steht, um zu zeigen, wie tolerant man ist, wie offen für Diskussionen und Debatten. Das ist Marketing.

Wo ist das Problem?
Das Museum stellt sich nun selber als »Africa Museum« dar, gleichzeitig bleibt es aber das »Königliche ZentralAfrika-Museum«. Es hat keineswegs ganz Afrika zum Thema, schon deswegen, weil in der Vorstellung des Museums alle Afrikaner schwarz sind. Wenn Sie also aus Nordafrika kommen, wenn Sie ein weißer Afrikaner sind, dann ist das nicht Ihr Museum. Wenn man das Museum aber nach wie vor als ZentralAfrika-Museum betrachtet, dann muss man sich die Frage nach der Legitimität eines Museummodells stellen, das auf enzyklopädische Weise unser Land darstellt, nach dem Vorbild der naturwissenschaftlichen Museen des 19. Jahrhunderts – aber eben im 21. Jahrhundert. Das Museum passt nicht zu unserer heutigen Gesellschaft.

»Die mutigste Entscheidung wäre gewesen, das Museum zu schließen.«

Inwiefern?
Die heutige Gesellschaft ist durch zwei widersprüchliche Tendenzen gekennzeichnet: eine Öffnung, für die die multikulturelle Stadt Brüssel ein gutes Beispiel ist – aber gleichzeitig ­leben wir auch in einer Zeit mit enorm viel Rassismus, enorm viel Angst vor dem anderen. Und gleichzeitig ist die Logik unserer Gesellschaften immer stärker postnational. Solche Widersprüche müssten sich in einem Museums­projekt wiederfinden. Stattdessen arbeitet sich das Museum an Fragen der Identität ab, als ob Identität etwas Fixes, Unverrückbares wäre, als wäre es überhaupt möglich, zu definieren, was Afrika oder Europa ist.

Spiegelt das nicht nur den, zumindest in Europa, vorherrschenden Diskurs wieder?
Der aktuelle Ansatz des Museums in Tervuren spiegelt vor allem die Krise der belgischen Identität wieder, einer fragilen Identität, die hin und wieder die koloniale Vergangenheit braucht, um sich als Nation zu erleben. Mit Afrika hat das herzlich wenig zu tun.

Taugt die Berufung auf die koloniale Vergangenheit auch dann zur Konstruktion der sogenannten belgischen Identität, wenn man sich explizit von den Grausamkeiten der Kolonialherrschaft distanziert?
Die Frage berührt die ganze Schwierigkeit, das Museum zu dekolonialisieren. Die Ideologie des Kolonialismus ist wie eine chronische Krankheit. Man muss sich im Klaren sein, dass man sie nicht einfach heilen kann. Man muss damit leben, man wird immer auf Arzneimittel angewiesen sein. Wenn Sie sich zum Beispiel die Leserbriefe zur französischen Debatte über die Rückgabe von Werken anschauen, das ist ein Diskurs wie in den dreißiger Jahren. Extrem aggressiv und sehr, sehr rassistisch. Wenn die Afrikaner die Objekte zurückkriegen, dann sollen sie gefälligst auch die Krankenhäuser wieder hergeben, wir haben die afrikanischen Kinder geimpft, wir haben Schulen gebaut, und so weiter. Ich denke, dass es in Belgien Leute gibt, die genauso denken.

Versucht man in Belgien, diesen Diskurs zu vermeiden, aus Angst davor, dass dadurch die Brüche in der belgischen Gesellschaft zum Vorschein kämen?
Die Stadt, in der ich lebe – Brüssel – ist ein wahres Labor, was die Koexistenz verschiedener Kulturen angeht. In Brüssel gibt es keine Ghettos. Auch in der Zeit nach den Terrorangriffen, so sehr uns das alle berührt hat, gab es keine Spaltung in der Bevölkerung. Die Regierung ist sich aber der Brüsseler Besonderheit überhaupt nicht bewusst. Die Regierungsstellen reagieren in keiner Weise auf diese tiefgehenden Transformationen.

Kommt das daher, dass es die belgische Regierung ist und nicht die von Brüssel?
Ja, und daher, dass die Leute, die an der Regierung sind, immer zu den gleichen gesellschaftlichen Kreisen gehören. Konservativ, oder sagen wir besser: traditionell, was die Politik angeht.

Und das Museum?
Nimmt auf opportunistische Weise den Diskurs der Diaspora auf. Sie plappern einfach nach, was sie von der Diaspora gehört haben. Ich bin überzeugt, dass sie nicht das kleinste bisschen von dem wirklich glauben, was sie kommunizieren.

Das müsste sich ja in der Ausstellung widerspiegeln.
Bei seiner Gründung war das Museum auf die Sammlung hin konzipiert. Man sagte sich, wir haben eine einzigartige Sammlung …

 

Bis heute brüstet sich das Museum mit seinen 120 000 Ausstellungs­stücken …
Genau, und auf diesen Reichtum sollte die Ausstellung aufbauen. Jede Abteilung sollte die Highlights dessen beitragen, was sie in ihren Sammlungen hatte. An diesem Konzept ändert sich nichts dadurch, dass man das Gespräch mit einigen Mitgliedern der afrikanischen Community in Brüssel führt.

Nun hat in Frankreich der Savoy-Sarr-Bericht eine gewaltige Diskussion über genau solche Sammlungen ausgelöst. Wird Belgien in der Lage sein, dieser Diskussion um die Rückgabe von Kulturgütern auszuweichen?
Das Museum stellt sich hin und sagt: »Wir können nicht mit Leuten diskutieren, die von Wut getrieben sind.« Was heißt das denn bitte? Dass man nur mit Leuten diskutiert, die mit allem ein­verstanden sind. Oder zumindest mit Leuten, mit denen sich ein Konsens herstellen lässt.

In der Beratungsgruppe des Museums, Comraf, sitzen aber hauptsächlich aus Afrika stammende Vertreter.
Comraf ist nicht unabhängig, weil auch Vertreter des Museums dazu gehören, das heißt, die afrikanischstämmigen Vertreter befinden sich in einem Loyalitätskonflikt. Das Museum hat nicht den Mut gehabt, diesen Leuten gedankliche Unabhängigkeit zu geben.

Was wäre denn eine mutige Entscheidung gewesen?
Die mutigste Entscheidung wäre sicher gewesen, das Museum zu schließen. Weil dieses Modell nicht mehr zur heutigen Gesellschaft passt.

Wäre eine Position wie diejenige, die in Frankreich im Savoy-Sarr-Report zum Ausdruck kam – Rückgabe aller geraubten Kulturgüter innerhalb von fünf Jahren – in Belgien überhaupt diskutabel?
Kulturgüter zurückzugeben, erfordert den Mut, die Debatte mit der anderen Seite zu führen, den Mut anzuerkennen, dass auch die Afrikaner Anrecht auf ihr kulturelles Erbe haben. Das Argument, die kongolesischen Institutionen seien nicht in der Lage, die Sammlung angemessen unterzubringen, sie hätten keine geeigneten Bauwerke, sie hätten nicht die wissenschaftliche Expertise, ist schlicht paternalistisch. Natürlich hat der Kongo im Moment dringende Probleme zu bewältigen: Wahlen, die Neuorganisierung vieler Sektoren der Gesellschaft, aber als Kunsthistoriker werde ich weiterhin versuchen, im Kongo ein Bewusstsein für diese Frage herzustellen – um die Rückgabe vorzubereiten, ohne dass das dazu führt, dass dort die Institutionen neu geschaffen werden, die es jetzt in Belgien gibt.

Dieser Prozess braucht Zeit – was sollte in der Zwischenzeit passieren?
Man müsste in Belgien eine Institution schaffen, die alleine die Kolonialgeschichte behandelt: ein Forschungsinstitut mit kongolesischen und belgischen Wissenschaftlern und natürlich internationalen Kollegen, wo es nur um den kolonialen Aspekt geht, den man wirklich mit all seinen Wider­sprüchen studieren müsste.

Wäre dafür das Museumsgebäude in Tervuren nutzbar oder ist es zu stark belastet?
Das Gebäude ist ein steinernes Buch. Es trägt die genetischen Spuren der Weltausstellungen, des Imperialismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es erinnert zu sehr an all das, sogar dann, wenn man das Innere ver­ändert; an der Außenhaut, dem Park und all dem, sieht man immer noch den physischen Abdruck, den der Imperialismus Leopolds II. hinterlassen hat. Tervuren ist auch nicht das einzige Kolonialmuseum – all unsere Museen müssen dekolonialisiert werden. Man kann doch keine Kinder spazieren führen in einer Umgebung, in der Minderheiten, Arme, Frauen als minderwertig dargestellt werden, während der Adel und die Angehörigen der Königshäuser geschönt dargestellt werden und Reichtümer anhäufen. Mit dieser elitären Kunstauffassung muss Schluss sein, die Kunst muss demokratisiert werden.

Leisten moderne Museen das nicht?
Unsere Städte wie unsere Museen hängen der neoliberalen Idee des ständigen und allgegenwärtigen Entertainment an, das die Menschen am Denken hindert. Dazu gehört, dass man die Diskurse der Minoritäten und all der randständigen Kreativen aufgreift und sie dem System einverleibt. Dabei spielen die Museen eine Schlüsselrolle. Museen präsentieren heute ihre Objekte wie im Apple Store – sehr sexy, mit dem coolsten Design. Tatsächlich kommt darin nur die Beschränkung aufs Wirtschaftliche zum Ausdruck.

Im Apple Store wie im Kolonial­museum besteht ja ein stillschweigendes Einverständnis zwischen Kunden und Geschäftsleitung, dass man lieber nicht über den womöglich zweifelhaften Ursprung der dort präsentierten Objekte sprechen möchte.
Absolut. Das bedeutet, wenn man Museen dekolonialisiert, muss man sich im Klaren sein, dass Tervuren kein Sonderfall ist. Es geht vielmehr um die Frage, was heute unser Verhältnis zum Kulturerbe, zur Kultur ganz allgemein ist. Die Intellektuellen, die Kreativen haben die Aufgabe, die Konventionen zu durchbrechen, die den Raum der Kunst, der öffentlichen Debatte, der kritischen Distanz definieren, sie müssen Ideen für neue Kultureinrichtungen entwickeln. Sonst werden sie zu Animateuren des bestehenden Systems, und die Kunst verliert ihre Kraft.