Der November 1918 ist Gegenstand geschichtsklitternder Darstellungen

Sieg der Konterrevolution

Politiker und Ausstellungsmacher feiern den November 1918 als Aufbruch in die Demokratie. Die Kontinuität von Konterrevolution und Nationalsozialismus verdrängen sie.

Wie »Schlafwandler« seien die europäischen Staatenlenker in den Ersten Weltkrieg getaumelt, die Deutschen trügen keine besondere Schuld, fabuliert der australische Historiker Christopher Clark in seinem gleichnamigen Buch. 2013 erschien es in deutscher Übersetzung. Diese Steilvorlage nutzten Poli­tiker und Journalisten hierzulande, als 2014 der 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs begangen wurde: Geschichtsklitternde Thesen waren damals häufig zu vernehmen. Insofern ist es kein Nachteil, dass das politische und mediale Establishment dem 100. Jahrestag von Kriegsende und Novemberrevolution weniger Beachtung schenkt.

Besonders für die CSU ist das Thema heikel. Denn der Sturz der Wittelsbacher-Monarchie war das Werk rebellischer Arbeiter und Soldaten, angeführt von Kurt Eisner, einem pazifistischen Sozialisten. Mit der Kampagne »Wir feiern Bayern« verschob die Landesregierung den Fokus auf zwei andere Jubiläen: 200 Jahre Verfassungs- und 100 Jahre Freistaat – frei nach dem Motto: »Bayern ist immer vorne«. 1918 habe das Land als erstes in Deutschland das Frauenwahlrecht eingeführt, 1818 die erste Verfassung ­erlassen. Dass Letztere die rechtliche Grundlage einer autoritären Monarchie und eines Ständestaates war, liest man auf der Web­site der Regierungskampagne nicht.

­Hätte man damals die ostelbischen Junker und Unternehmer wie Krupp und Thyssen enteignet, hätten der faschistischen Bewegung die wichtigsten Unterstützer gefehlt.

Auch im benachbarten Thüringen gedenkt man der Jahre 1918/19. Die von der Linkspartei geführte Landesregierung unterstützt das Projekt »Auf­bruch in die Demokratie«, eine von dem Verein Weimarer Republik e. V. orga­nisierte Veranstaltungsreihe. Dank der Novemberrevolution sei alle Gewalt fortan vom Volke ausgegangen, schreibt Kultusminister Benjamin-Immanuel Hoff (»Die Linke«) im Vorwort zu einem Programmheft. Auf den folgenden Seiten lobt der Historiker Manuel Schwarz die »konstruktive Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen politischen Lagern« in den neun Republiken, die im November 1918 nach der Auflösung der neun Thüringer Fürstentümer entstanden waren. Wen Schwarz damit wohl meint? Sozialdemokraten, Bürgerliche, Konservative, Proto- und Prä­faschisten? Auf jeden Fall nicht »die linksradikalen Kräfte«, denen er vorhält, dass sie in Gotha »beharrlich eine Räterepublik zu etablieren« versucht hätten. Das Stadtmuseum Weimar präsentiert eine Ausstellung zur verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung. Das Museum würdigt unter anderem den Militäreinsatz zum Schutz der Abgeordneten durch das Freikorps Maercker. Dass dieses eine Blutspur durch Thüringen und Sachsen-Anhalt zog, bleibt in der Ausstellung unerwähnt.

Bei einer Gedenkstunde des Bundestags feierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) den 9. November 1918 als »Meilenstein in der deutschen Demokratiegeschichte« und »Aufbruch in die Moderne«. An diesem Tag rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann aus einem Fenster des Reichstags die Republik aus – allerdings nur widerwillig und erst als ein Demonstrationszug vorbeizog und der SPD-Politiker der radikalen Linken zuvorkommen musste. Steinmeier verschwieg dies. Den Weltkrieg erwähnte der Bundespräsident eher beiläufig. So konnte er die Schuldfrage unbeantwortet lassen.

Die Kriegstreiber waren keine Schlafwandler, sondern die politische und militärische Führung Deutschlands und Österreich-Ungarns sowie Industrielle und Großgrundbesitzer. Weil Deutschland als konstitutionelle Monarchie längst ein bürgerlicher Staat war, musste das Parlament dem rassistisch als »Kampf gegen das Slawentum« ­begründeten Griff nach der Weltmacht zustimmen. Die SPD bewilligte die Kriegskredite und unterstützte eine Kriegsführung, die mit Massakern an Zivilisten im neutralen Belgien begann. Die Gewerkschaften sorgten für Ruhe in den Betrieben. Sozialdemokraten und Gewerkschafter denun­zierten Pazifisten und Oppositionelle sowie unzufriedene und streikende ­Arbeiterinnen und Arbeiter bei den Behörden.

Die Revolten im November 1918 richteten sich gegen die Fortsetzung des Krieges und die Kriegstreiber. Die radikale Linke kämpfte für eine Rätedemokratie und eine vergesellschaftete Wirtschaft. Hätte man damals die ­ostelbischen Junker und Unternehmer wie Krupp und Thyssen enteignet, ­hätten der faschistischen Bewegung die wichtigsten Unterstützer gefehlt. Steinmeier und die Weimarer Ausstellungsmacher wärmen hingegen die ­Legende von der Bedrohung der Republik von links und rechts wieder auf, jene Extremismusdoktrin, die den Faschismus relativiert. Der Bundesprä­sident rechtfertigte in seiner Rede sogar die Verbrechen der damaligen SPD-Führung und der Freikorps: »Gegen den Versuch der radikalen Linken, die Wahlen zur Nationalversammlung mit Gewalt zu verhindern, mussten die Volksbeauftragten um Friedrich Ebert sich zur Wehr setzen.«

Das ist Geschichtsfälschung. Der SPD-Vorsitzende und spätere Reichskanzler Ebert verbündete sich schon am 10. November mit dem Generalstab der kaiserlichen Armee; von einer Na­tional­ver­sammlung war da noch keine Rede. Im Auftrag der von der SPD geführten Regierung stellten Offiziere jene Todesschwadronen zusammen, die Demonstrationen, Streiks und Aufstände niederschlugen. Am 6. Dezember schossen diese Einheiten in Berlin erstmals auf Demonstranten, im gleichen Monat töteten die Truppen im Ruhrgebiet Bergarbeiter, die für den Sechs-Stunden-Tag und höhere Löhne streikten. Im März 1919 massakrierten sie in der Hauptstadt bei einem Generalstreik mehr als 1 000 Menschen.

Zwar hatte die radikale Linke die Nationalversammlung als Komplott gegen die Räte abgelehnt, es gab aber keinen bewaffneten Versuch, die Wahlen zu verhindern. Rosa Luxemburg hatte sogar für eine Teilnahme plädiert, weil sie die Kräfteverhältnisse realistisch einschätzte, ebenso wie der KPD-Führer Eugen Leviné, der am 3. Januar 1919 nach Oberschlesien reiste, um einen Aufstand zu verhindern. Er lehnte auch die Räterepublik in München ab, weil die Basis dafür fehle. Vielerorts waren die Räte in sozialdemokratischer Hand, auf Ruhe und Ordnung getrimmt.

Es gab zwar eine revolutionäre ­Massenbewegung, diese war aber nicht koordiniert und hatte keine gesellschaftliche Mehrheit hinter sich. In dieser Situation verschafften Ebert und Gustav Noske, der sich selbst zum »Bluthund« erkor, den alten Mächten eine Atempause, um sich neu zu formieren. Darum markierte die November­re­volution nicht den Beginn der Demokratie, sondern endete mit dem Sieg der Konterrevolution, einer Entfesselung brutaler Gewalt durch Sozial­demokraten und unmittelbare Vorbereiter des Nationalsozialismus. Weil Steinmeier diese Kontinuität verdrängt, erscheint der Nationalsozialismus als Ausnahmeereignis, manche würden von einem »Vogelschiss« reden. Das hat eine innere Logik: Wer Staat und Nation preist, muss deren Verbre­chen kleinreden.

Und so endete die Rede des Bundespräsidenten mit einem Plädoyer für einen aufgeklärten, demokratischen Patriotismus – einen ge­läuterten Nationalismus, den es nicht geben kann. Denn Nationalismus heißt Ausschluss.