Vor den Wahlen in Nigeria hat sich die Sicherheitslage im Norden verschlechtert

Nur Waffen gibt es genug

Im Februar stehen in Nigeria Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an. Die Sicherheitslage hat sich in mehreren Bundesstaaten im Norden wegen Angriffen islamistischer Terrorgruppen wieder verschlechtert.

Schmale weiße Streifen ziehen sich auf der Karte von Yobe, Borno und Adamawa im Norden Nigerias durch rot gefärbte Gebiete. Je weiter östlich und je ­näher an der Grenze zum Tschad und zu Nordkamerun gelegen, desto verstreuter erscheinen die weißen Flecken mit Hubschrauberlandeplätzen rund um die urbanen Zentren. Weiß bedeutet »zugänglich«, rot steht für »unzugänglich«. Die im November 2018 veröffentlichte Karte des Koordinationsbüros der Vereinten Nationen für humanitäre Hilfe (OCHA) veranschaulicht die schlechte Sicherheitslage in den genannten Bundesstaaten, in denen islamistische Terrorgruppen operieren. Betroffen sind nicht nur Einsatzkräfte humanitärer Hilfsorganisationen, sondern vor allem die über 13 Millionen Menschen, die in der Region leben.

Noch im April 2018 hatte al-Jazeera vom möglichen Niedergang der transnationalen islamistischen Terrorgruppe Boko Haram gesprochen, die auch in Niger, Nordkamerun und dem Tschad ihr Unwesen treibt, jedoch längst in Sektionen zersplittert ist. Nach dem Tod von Mohammed Yusuf sei vor allem der Streit zwischen Shekau, Khalid al-Barnawi und Mamman Nur um die Führungsrolle der Grund für die Schwäche der Organisation. Allerdings könnte die Schwächung des »Islamischen Staats« (IS) in Syrien und im Irak Boko Haram wieder neuen Zulauf bescheren.

Tatsächlich hatte Boko Haram nach Angaben des nigerianischen Militärs erst Ende Dezember 2018 13 Soldaten und einen Polizisten bei einem Angriff im Norden des Landes getötet, bei ­einem Angriff im August kamen 30 Sicherheitskräfte ums Leben. Im Dezember 2018 hatte die stärkere Fraktion der Boko Haram, die spätestens seit 2016 als »Islamischer Staat der Provinz Westafrika« (ISWA) auftritt, das kommerzielle Zentrum der Stadt Baga nahe der Grenze zum Tschad unter ihre Kontrolle gebracht. Allein infolge dieses Angriffs waren über 6 300 Menschen ins Nachbarland geflohen und 20 000 vertrieben worden. Reuters meldete zwar, dass die vom ISWA besetzte Stadt, in der eine multinationale Truppe aus Nigeria, Kamerun, Niger und dem Tschad stationiert war, längst wieder unter staatlicher Kontrolle sei. Doch machte der Angriff deutlich, wie verwundbar staatliche und internationale Kräfte sind – und damit erst recht die Bevölkerung.

Die Sicherheitslage scheint sich zurzeit abermals zu verschlechtern. Der Nigeria Security Tracker des Council on Foreign Relations, der Agentur- und Presseberichte auswertet, meldete im Januar gleich mehrere Angriffe. In ­einigen Fällen gingen die Sicherheitskräfte rasant gegen die Kämpfer vor, die Zahl der Opfer stieg im Dezember und Januar auf beiden Seiten. Der nigerianische Präsident Muhammadu Buhari hatte die Niederschlagung der islamistischen Milizen in seinem Wahlkampf 2015 als Priorität formuliert. Umso ärgerlicher ist für ihn die neuer­liche Eskalation wenige Wochen vor den Präsidentschafts- und Parlaments­wahlen am 16. Februar. Der ehemalige General der nigerianischen Streit­kräfte fasste jüngst das Ergebnis der Terrorbekämpfung euphemistisch ­zusammen: Als er im Mai 2015 als Präsident angetreten sei, um gegen den islamis­tischen Terror vorzugehen, habe Boko Haram 17 Verwaltungseinheiten in Nordnigeria, eine Fläche so groß wie Belgien, kontrolliert, derzeit kontrolliere die Gruppe keine einzige. Diese Bilanz widerspricht den täglichen ­Erfahrungen der betroffenen Bevölkerung.

Die Ermordung zweier humanitärer Hilfskräfte durch Jihadisten im September und Oktober 2018 zog nochmals strengere Sicherheitsvorkehrungen der Hilfsgüterverteilung nach sich, also mehr Militär, mehr Konvois, mehr ­Waffenpräsenz. Im November wurden zwei Siedlungen unweit von Maidu­guri niedergebrannt, der Metropole, die seit dem Ausbruch des Konflikts von rund 1,5 auf drei Millionen Einwohner angewachsen ist. Mitte des Jahres hatte vor allem der ISWA, der vorwiegend aus der Grenzregion zum Tschad operiert, militärische Stärke bewiesen und Dutzende Armeefahrzeuge in ­seine Gewalt gebracht. In Flüchtlingscamps verteilt der ISWA derweil Gutscheine und sucht die Nähe zur Bevölkerung. Offenbar kursieren in informellen Flüchtlings­camps in sozialen Medien Nachrichten der Miliz, die mit religiösen Botschaften werben. So wird die Bevölkerung mit ideologischen ­Angeboten versorgt und in die vom ISWA kontrollierten ländlichen Gebiete gelockt.

Vom Staat werden seit etwa zwei Jahren Rückkehrprogramme für Vertriebene lanciert. Rund 50 000 wagten in Ermangelung jeglicher Existenzgrundlage den Weg zurück. Das hebt Buhari als Beweis für eine erfolgreiche mili­tärische Terrorbekämpfung gerne hervor. Doch lange nicht alle Rückkehrer gehen freiwillig. Die humanitäre Notlage von über 7,7 Millionen Menschen in den drei Bundesstaaten hatte im Sommer 2018 zu Medienaufmerksamkeit für die vergessene Krise in der Tschad-Region und zu einer internationalen Geberkonferenz in Berlin geführt. Über eine Milliarde US-Dollar hatten die UN und ihre Partner für den humanitären Hilfsbedarf 2018 veranschlagt, nur knapp ein Drittel der Gelder wurde zur Verfügung gestellt. 3,7 Millionen Menschen sind auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen, darunter 1,3 Millionen Vertriebene und eine halbe Million Rückkehrer allein in Nigeria.

Wenngleich die Ernährungslage als Indiz für die Misere steht, wähnt sich Buhari auf der sicheren Seite. Immerhin hatte er in jüngerer Vergangenheit ­Gesetzesinitiativen wie den Terrorism Prevention Act, eine nationale Strategie zur Terrorbekämpfung, und 2017 den Nationalen Plan zur Bekämpfung von Terrorismus und gewaltsamem Extremismus auf den Weg gebracht. Auch operiert nun seit Jahren eine inter­nationale Einheit mit Streitkräften aus ­Kamerun, Niger, Nigeria und dem Tschad zusammen mit einer zivilen Task Force.

Doch mit militärischer Stärke und Kontrolle allein können die Islamisten nicht bezwungen werden. Zum einen ist die weite Verbreitung von Waffen ein Hindernis für den Frieden. Diese wurden nach dem Zusammenbruch des Gaddafi-Regimes in Libyen im Jahr 2011 nach Nigeria gespült, wie auch in die gesamte Sahelzone. Das in Togo ansässige UN-Regionalzentrum für Frieden und Abrüstung in Afrika (UNREC) geht von 350 Millionen Waffen aus, knapp zwei für jeden Einwohner der gesamten Region. Zum anderen schwächen die von den Ordnungskräften ausgehende Repression und Menschenrechtsverletzungen das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen ­Akteure. Vor allem Boko Haram profitiert von den Gewaltakten des Militärs gegen inhaftierte Kämpfer und von den Vergewaltigungen vertriebener Frauen durch staatliche Sicherheitskräfte, die 2016 von Human Rights Watch und Amnesty International ans Licht gebracht wurden.

Inwieweit die Bevölkerung der betroffenen Bundesstaaten an den Wahlen im Februar teilnehmen kann und will, auch wo Wahlbüros erreichbar sind, ist offen. Schon jetzt ist klar, dass die Wahlen für viele Menschen in den drei Bundesstaaten ein erhöhtes Sicherheitsrisiko darstellen und die Wahl­beteiligung lebensgefährlich werden kann. Auch mag jenen, die von Buharis Versprechen und internationalen Bekenntnissen zur Stabilisierung der ­Sicherheit im Land enttäuscht sind und die einen Wechsel wollen, der Rückzug Obiageli Ezekwesilis als Präsidentschaftskandidatin die Wahlentscheidung erschweren. Die ehemalige Bildungsministerin, Mitbegründerin der Antikorruptionsorganisation Transparency International und der Bewegung #BringBackOurGirls ist populär. Die Mehrheit der 84 Millionen Stimmberechtigten in Nigeria sind Frauen unter 30 Jahren.