Lahme Literaten - Folge 5

Ursula Krechel

Kolumne Von Magnus Klaue

<p>1974 wurde Günter Guillaume, Willy Brandts persönlicher Referent, ­als DDR-Spion enttarnt; kurz darauf wählte der Bundestag Helmut Schmidt zum Nachfolger Brandts im Amt des Bundeskanzlers.</p>

1974 wurde Günter Guillaume, Willy Brandts persönlicher Referent, ­als DDR-Spion enttarnt; kurz darauf wählte der Bundestag Helmut Schmidt zum Nachfolger Brandts im Amt des Bundeskanzlers. Richard Nixon trat wegen der Watergate-Affäre zurück; die Nachwirkungen der Ölkrise drückten auf die Gemüter; Mitglieder der RAF traten im Gefängnis in den Hungerstreik; Holger Meins starb. Im selben Jahr wurde Ursula Krechels Theaterstück »Erika« erstmals aufgeführt. 1976 wurde Jimmy Carter US-amerikanischer Präsident; auf dem Flughafen von Entebbe beendeten israelische Streitkräfte die Entführung eines Air-France-Passierflugzeugs durch palästinensische und deutsche Terroristen. Ulrike Meinhof wurde in ihrer Zelle in Stammheim erhängt aufgefunden; der Kabeljaukrieg zwischen Island und Großbritannien fand ein friedliches Ende. Ursula Krechel veröffentlichte den Essay »Selbsterfahrung und Fremdbestimmung« über die Zweite Frauenbewegung. 1981 trat das Steuerentlastungsgesetz (StEntlG) in Kraft; Richard von Weizsäcker wurde in West-Berlin zum Regierenden Bürger­meister gewählt; Ronald Reagan wurde Präsident der Vereinigten Staaten, Samoa Mitglied der Unesco. Ursula Krechel veröffentlichte den Prosaband »Zweite Natur«. 1989 fiel die Berliner Mauer; Ursula Krechel publizierte den Lyrikband »Kakaoblau«. 1991 wurden im sächsischen Hoyerswerda rassistische Übergriffe auf Bewohner von Flüchtlingsheimen begangen; Ursula ­Krechel brachte im Jahr darauf den Essayband »Mit dem Körper des Vaters spielen« heraus. 1997 wurde Tony Blair Premierminister Großbritanniens; Joanne K. Rowling veröffentlichte »Harry Potter und der Stein der Weisen«, Ursula Krechel den Gedichtband »Ungezürnt«.

Seitdem hat Ursula Krechel immer so weitergemacht. Schreibend, schreibend, schreibend, erzählend, dichtend und kommentierend begleitet die in der moderaten Avantgarde des literarischen Feminismus der Siebziger sozialisierte Autorin die Bundesbürger von Jahr zu Jahr. Kein Mensch auf der ganzen Welt weiß, was in ihren Büchern steht, keiner weiß, wer sie liest, und selbst diejenigen, die sie im Regal haben, haben sie nur einmal in der Hand gehabt, um sie hineinzustellen. Sie werden regelmäßig rezensiert und fast nie aufgeschlagen, keiner findet sie richtig schlecht und keiner richtig gut, keiner kennt ihre ­Titel, aber alle wissen, dass Ursula Krechel schreibt. In ihr ist Beck­etts Diktum »Wen kümmert’s, wer spricht?« auf völlig uner­wartete Weise Wirklichkeit geworden. Die Autorin verschwindet im Werk wie die Frau in Ingeborg Bachmanns »Malina« in der Wand, und das Werk verschwindet in der Welt wie Franz Schuberts Wanderer im Schnee, freilich ohne die damit verbundene ­Tragik. Hin und wieder wird sogar über Ursula Krechel geredet. Ihr Roman »Landgericht«, der das Leben eines nach Havanna emigrierten jüdischen Richters erzählt, erhielt 2012 den Deutschen Buchpreis und wurde 2017 zu einem Fernsehfilm verarbeitet, den ebenfalls niemand gesehen hat. Von ihrem Roman »Geisterbahn«, der die Geschichte von »Landgericht« fortsetzt, zeigten sich Ingeborg Harms in der Zeit, Andreas Platthaus in der FAZ und Ulrich Rüsenauer in der SZ begeistert, was ebenso wenig Folgen hatte wie die Tatsache, dass andere ihrer Bücher kaum begeistern konnten. Im Gegensatz zu anderen Autoren dieser Rubrik ist Ursula Krechel aber nicht gefährlich, nicht böse und nicht doof, und niemand kann ihr etwas übelnehmen. Sie ist einfach da, stört keinen, regt keinen auf, greift nirgends ein, nimmt nichts weg und fügt nichts hinzu. Wären mehr Leute wie sie, die Welt wäre ein besserer Ort.