Der analoge Mann

Einmal Hamburg und zurück

<p>Strahlende Sonne und knallblauer Himmel: Meine Heimatstadt Hamburg zeigt sich von ihrer besten Seite.</p>

Strahlende Sonne und knallblauer Himmel: Meine Heimatstadt Hamburg zeigt sich von ihrer besten Seite. Wir machen am Sonntagvormittag e­inen Rundgang durch Harvestehude, eines von Hamburgs reichsten Vierteln. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. In der Hansa­straße, in einem bescheidenen, roten Backsteinhaus aus den fünfziger Jahren, bin ich groß geworden. »Da war unser Kinderzimmer. Im vierten Stock, das Fenster in der Dachschräge. Das hab ich mir mit meinem Bruder geteilt, bis ich 13 war«, erkläre ich den Freunden. »Gleich neben unserem Eingang, Nummer 27, war die Schlachterei meines Großvaters.« »Da ging der kleine Andi nach der Schule hin und bekam eine Scheibe Wurst auf die Hand«, sagt meine Freundin, die alle meine Stories schon kennt. »Ja. Stimmt. Und neben der Schlachterei war links ein Gemüsehändler und daneben so ein Tante-Emma-Laden. In dem Tante-Emma-Laden ist die Sprudelflasche explodiert, von der ich als Kind die Narbe im Gesicht bekommen habe.« »Klein-Andi als Cowboy verkleidet! Voll süß!«, ergänzt Julia, die meine Stories wie gesagt schon auswendig kennt. Heute sind alle Ladengeschäfte verschwunden, die Schaufenster mit Gardinen verhangen. Es gibt nur noch eine traurige Kita.

Ein paar Häuser weiter in der Rothenbaumchaussee im Café Funk-Eck, einem der ältesten Cafés Hamburgs, habe ich schon als Kind mit meiner Oma gesessen. Auf der Terrasse ist immer noch viel los. Wir trinken Kaffee und essen Kuchen. Danach spazieren wir über den Innocentia-Park bis zu den Grindel-Hochhäusern. Wir landen im Schanzenviertel, sitzen im Café und trinken Alsterwasser. Junge Leute flanieren scharenweise an uns vorbei. »Ist heute Schanzenfest, oder so was?«, frage ich unsere Hamburger Freunde. »Nein. Ist nur der erste Frühlingstag. Da wollen natürlich alle draußen sein.« 25 Jahre habe ich in dieser Stadt verbracht. Jetzt kann ich mich noch nicht mal erinnern, wann ich zum letzten Mal hier war. Warum war ich eigentlich so lange nicht hier? Mir gefällt alles so gut.

Am Abend spielt Fil in der »Fabrik« in Altona. Wir treffen viele Freunde und alte Bekannte und lachen so ausgiebig, das uns die Kiefer weh tun. Unsere Freunde wollen mit uns noch was trinken gehen, aber wir entscheiden uns dagegen, weil wir sonst erst zu spät nach Hause kommen würden. Unser Freund Thomas nimmt mich und meine Freundin in seinem Auto mit zurück nach Berlin. Irgendwann döse ich halb liegend auf der Rückbank ein, während wir mit 180 Sachen durch die Nacht rasen. Plötzlich ein lauter Knall. Mein Gurt zurrt. Thomas hält verkrampft das Lenkrad fest. Fährt weiter. Wir sind geschockt und hellwach. »Was war das?«, fragt Julia. »Weiß nich…«, sagt Thomas, der versucht, so ruhig wie möglich zu bleiben. »Vielleicht ein Waschbär. Irgendwas großes. Das hat ganz schön gescheppert. Ich fahr erst mal weiter, bis hinter die Baustelle.«

Hinter der Baustelle zeigt der Bordcomputer plötzlich einen Motorschaden an. Der Wagen wird immer langsamer. Thomas hält auf dem Pannenstreifen. »Scheiße.« Er steigt aus und guckt sich die Frontseite aus der Nähe an. »Sieht schlimm aus. Den Kühler hat’s total zerlegt. Wir sitzen fest. Ich ruf gleich mal den ADAC an.« Mist. Es ist 2.20 Uhr. Thomas muss um neun Uhr arbeiten. Bis Berlin sind es nur noch 50 Kilometer. Thomas baut das Warndreieck auf und zieht sich die Warnweste über. Irgendwann hält die Polizei hinter uns. Ein freundlicher Polizist wartet mit uns, bis der Abschleppwagen vom ADAC da ist. Der Mann lädt den Wagen auf und nimmt uns mit zu seiner Werkstatt in einem Gewerbegebiet am Rande einer Kleinstadt. Wir laden unser Gepäck aus dem Wagen und gehen ins Büro, erleichtert, endlich von der Autobahn runter zu sein. Hoffentlich geht es jetzt schnell nach Haus. »Sie haben Anspruch auf ein Ersatzmobil und ick habe zum Glück auch zwee Stück hier stehn. Muss nur noch kurz in den Computer und dit aufnehm und denn jeht’s los«, sagt der Abschleppmann. Und kann sich dann nicht einloggen. »Scheiße! Wie ist das Passwort?«

Ist das jetzt sein Ernst? Der hat sein Passwort vergessen? »Nützt ja nix. Muss ick die Kollegin uffwecken.« Und das tut er dann auch. »Gut, jetzt kann’s ja nicht mehr so lange dauern«, sagt Thomas. Aber dann stellt sich raus, dass der Typ, selbst mit Passwort, nicht an die Formu­lare kommt, um uns einen Wagen auszuleihen. Er ruft beim ADAC an. Wir warten. Er sagt nichts. Schüttelt dann den Kopf und verdreht die Augen. »Die sind erst um halb acht zu erreichen.« Es ist vier Uhr. »Können Sie uns nicht einfach auf Papier bestätigen, dass wir einen Wagen von Ihnen bekommen haben?«, fragt Julia. Und der Mann lacht, als hätte sie den Witz des Jahrhunderts gemacht. »Pffff, nee, wie stelln Se sich dit vor? Dit jeht nich. Dit is heute ­allet mit Computa.« Dann starrt er auf den Bildschirm, uf das Formular, das er nicht ausfüllen kann und schweigt. Thomas guckt uns fragend an. »Na, dann würde ich sagen, Sie bestellen uns jetzt ein Taxi.« Nichts leichter als das – sollte man meinen. Aber kein Taxifahrer aus der Gegend ist bereit, so früh aufzustehen, um uns in die Stadt zu fahren. Irgendwann gibt er auf und ruft bei einem Berliner Taxiunternehmen an.

20 Minuten später fährt uns ein freundlicher Mann für 70 Euro nach Hause. Um halb sechs liegen wir im Bett. Ich kann nicht schlafen. Warum konnte uns dieser Typ nicht ein Ersatzmobil geben? Wir lassen einen neuen BMW bei ihm und er kann uns nicht eines seiner Schrottautos ausleihen? Warum geht heute alles nur noch mit Formularen aus dem Computer? Die werden auch nur ausgedruckt und unterschrieben. Ist doch auch Papier. Und vor allem: Wären wir doch noch in Hamburg was trinken gegangen, der Waschbär wäre noch am Leben, das Auto wäre noch intakt und wir wären viel früher hier gewesen.