»Massif Occidental« von Hyperculte

Geloopte Schnipselflut

Auf ihrem zweiten Album spielen sich Hyperculte erneut in eine düstere Trance, ohne dabei Nuancierungen zu vernachlässigen.

Wer hat den Film »Lucky People Center International« gesehen? Mit Blick auf die kommende Jahrtausendwende gab er 1999 Einblick in unterschiedlichste Lebensumstände: Schamanische Rituale wurden mit Aufnahmen von Industrielandschaften montiert, ein japanischer Banker erzählte von seinem Arbeitsalltag und seinem Ausgleich, den er in der Noise-Szene Tokios findet, während an anderer Stelle Angehörige der Penan auf Borneo zu ihrer Vertreibung aus dem Regenwald befragt wurden. Zusammengehalten wird der Film hauptsächlich durch seinen Soundtrack: Samples folkloristischer Musik sowie Satz- und Wortfetzen werden zu dichten Kompositionen verwoben und scheinen dabei zeigen zu wollen, wie nahe sich traditionelle und ­moderne Musik mit dem Stilmittel der Wiederholung – dem Loop – kommen können. Der Film ist eine verwirrende Collage, ein ästhetisches Spiel mit den Kuriositäten und Zerstörungen auf dieser Erde mitsamt ihrer überforderten Bewohnern. Die moderne Welt pervertiert den ­Ritus und entfremdet den Menschen von seiner Umwelt, so könnte eine grundlegende Botschaft des Films lauten.

Die Band Hyperculte legt eine ähnliche Sicht bereits in ihrem Namen nahe. Schon mit ihrem ersten Album machte das Duo durch ungewöhnlichen Sound auf sich aufmerksam. Sie klingen brachial, bewegend, unaufhaltsam. Treibende, klare Rhythmen und der heftige Druck des Kontrabasses bilden die Grundlage ihrer Stücke, die durch live eingespielte Loops aufgebaut werden und immer wieder an die Kompositionen des schwedischen Kollektivs Lucky People Center erinnern, die den oben genannten Film montierten. Der musikalische Hintergrund von Hyper­culte ist allerdings ein deutlich anderer. In einem drei Jahre zurückliegenden Interview, das die Band dem Fernsehsender TV5 Monde gab, erwähnte Bassist und Gründer Vincent Bertholet, dass das Ziel von Hyperculte sei, eine wilde und urbane Musik zu schaffen: »Trance-Pop Post-Disco« nennen sie das. Früher stand noch »Prekraut« in der Musikbeschreibung.

Wenn Schlagzeugerin Simone ­Aubert neben ihrem Set auch eine E-Gitarre mit ihren Drumsticks traktiert und Bertholet den Sound seines Kontrabasses durch allerlei Effekte modelliert, macht das die Live-Auftritte der Band so ereignisreich. Ebenso effektgeladen wie Bass, Gitarre und Schlagzeug ist der Gesang. Sich wiederholende Melodien überlagern einander, schwellen an zu mehrstimmigen Chören und werden zu komplexen Gebilden, die trotz der selbstgewählten Stiletikettierung der Band weniger an ausgelassenes Feiern in der Disco als an melancholisch grimmiges Tanzen denken lassen.

Die beiden Mitglieder von Hyperculte sind bereits länger auch in an­dere Projekten involviert. Aubert ist Gitarristin der punkig-experimentellen Band Massicot und sie hat darüber hinaus vor kurzem mit »Tout Bleu« ihre erste Soloplatte vorgelegt, die noch tiefer als Hyperculte düstere Effektlandschaften erkundet. Bert­holet wiederum ist die treibende Kraft hinter einer seit über zehn Jahren bestehenden Gruppe namens Orchestre tout puissant Marcel Duchamp, die in ungewöhnlicher Besetzung mit ­allerlei Schlag-, Blas- und Saiteninstrumenten ähnlich wie im anderen Projekt treibende Polyrhythmik mit filigranen Melodien verbindet und dabei allerlei Anleihen bei moderner Literatur und Kunst nimmt.

Auf dem Cover des ersten, selbstbetitelten Albums von Hyperculte ist das Duo in enormen Fellkostümen zu sehen, eine Hommage an die Fotografien von Charles Fréger, der für seinen Band »Wilder Mann« europäische Kostümtraditionen porträtierte und sie dadurch, gewollt oder ungewollt, aus ihrer sozialen Funktion löste, die in der Kollektivität des Rituals liegt. In ihren Anzügen wirken Hyperculte ebenso verloren, vereinzelt und wie die Künstler des Lucky People Center auf der Suche nach dem Kollektiven in einer postmodernen Welt.

Nun haben Hyperculte die Kostüme abgelegt. Die beiden machen ­einen deutlich entspannter, sogar fröhlichen Eindruck. Das Cover des neuen Albums »Massif Occidental« ein Schnappschuss, entstanden vor ­einem Auftritt, und die ruhige Haltung der beiden, die man auf dem um 180 Grad gedrehten Bild auf einer Couch sitzen sieht, hört man den neuen Songs deutlich an. Nach fünf Jahren gemeinsamen Tourens und den absolvierten Studioaufnahmen habe sich auch ihre Art des gemein­samen Spielens verbessert, so die Band im Interview mit der Jungle World. Beim ersten Album weigerte sich Bertholet noch, die fertigen ­Aufnahmen anzuhören. Nun, beim zweiten Mal zu Gast bei Tobias ­Levin im renommierten Hamburger Studio Electric Avenue, hörte er hin, und zwar mit einer Ruhe, wie sie auch für das Coverfoto treffender nicht hätte eingefangen werden können. Er sagt: »Ich war vorbereitet, dadurch war es leichter.«

Anleihen, Anekdoten und Reminiszenzen finden sich zahlreich bei Hyperculte. Sie haben eine große Nähe zum Theater, wie nicht zuletzt ihre Texte zeigen. Das Album er­öffnet mit Shakespeares Timon von Athen, dessen Beschreibung der Macht des Goldes auch der junge Karl Marx heranzog, um das Wesen des Geldes zu veranschaulichen. Hyperculte vertonten denselben Ausschnitt und schließen mit eigenen Worten: »The best time for a new ­beginning is now.« Die Texte – die Anspielungen reichen von Nietzsche über Guy Debord bis hin zur kanadischen Politikerin und Künstlerin ­Catherine Dorion – erinnern an die eklektizistische und ästhetisierte Schnipselflut von selbstgemachten Fanzines. Sätze von Erasmus von Rotterdam mischen sich im Track »Chaos« mit Passagen des anarchistischen Okkultisten Hakim Bey. Auf »Siamo Tutti«, dem wohl discotauglichsten Track des Albums, deklamiert Bertholet eine Beschreibung der Proteste im Val Susa, in dem seit mehreren Jahren Anwohner und Ökoaktivisten  gegen die geplante Hochgeschwindigkeitsstrecke Lyon-Turin kämpft. Der aktivistische Duktus, die Wendung kanonischer Schriftsteller ins Subversive, das ­Kokettieren mit anarchistischen Parolen, das Spiel mit Folklore und Trance vermengen sich zu einer wunder­lichen Mischung, zu einem libertären Reigen. Das zeigt sich auch in der Entscheidung der Band, Grauzones Hit »Eisbär« zu covern, jene oft gespielte Kulthymne der frühen Achtziger, der sie aber wider Erwarten doch neues Leben einhauchen können.

Hyperculte und die anderen Projekte der Musiker sind in Genf ansässig, wo sich eine große Musikszene entwickelt hat. »Massif Occidental« erscheint beim Hamburger Label Red Wig, mit dem die beiden Musiker seit vielen Jahren verbunden sind, sowie beim Genfer Label Les Disques Bongo Joe. Letzteres hat sich nach dem US-amerikanischen Straßenmusiker George »Bongo Joe« Coleman benannt, der sich singend, erzählend und auf Ölfässern trommelnd auf einem berühmten Album von 1968 verewigte. Das kollektiv ­geführte Label hat ein ambitionierte, beinahe verwirrende Bandbreite musikalischer Genres anzubieten: Verlorengegangene Tapes des stilprägenden Calypso-Musikers Walter Gavitt Ferguson gehören zum Programm wie die Lo-Fi-Punk-Alben von The Staches. Viele der Musikprojekte in Genf profitieren von der Kulturpolitik der Stadt, die auch unabhängige Kunst stark fördert. Hyperculte absolvierten im vorigen Jahr ihre erste Tour durch Südamerika mit finan­zieller Unterstützung der Stadt, das neue Album hätte auch nicht ohne staatliche Subventionen realisiert werden können. Auf die Frage, wie sich die inhaltlich radikale Ausrichtung des Albums mit staatlicher Kulturförderung vertrage, antworteten sie: »Eigentlich sind wir keine Anarchisten, aber linksradikal natürlich. Unser Engagement wird klar in unseren Stücken. Aber wir haben kein Problem damit, Förderungen anzunehmen. Sie existieren und wir nutzen die Möglichkeit, diese Unterstützung zu erhalten.«
Das Werk von Hyperculte ist wuchtig, mit Hang zum Fatalen – und doch besticht es durch seine Ausgewogenheit, denn es bleibt immer Raum für feine Nuancen.

Hyperculte: Massif Occidental (Red Wig/Les Disques Bongo Joe)