Enteignung als Notwehr

Das Übel namens Kapitalismus

Die Enteignungsdebatte ist im Mainstream angekommen. In Zeiten, in denen der Autoritarismus auf dem Vormarsch ist, braucht es Druck von unten, um die soziale Frage wieder auf die Tagesordnung zu setzen.

Muss man sich Sorgen machen um den Kapitalismus in Deutschland? Pünktlich zum 1. Mai veröffentlichte die Zeit ein Interview mit dem Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert, in dem dieser zunächst die Forderung des Berliner Volksbegehrens zur Enteignung von Wohnungskonzernen aufgriff. Die ­Initiative »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« fordert eine Enteignung auf Grundlage des bislang nie angewendeten Artikels 15 des Grundgesetzes. Doch Kühnert ging noch weiter und sprach über eine Kollektivierung des Autokonzerns BMW. »Ohne Kollektivierung ist eine Überwindung des Kapitalismus nicht denkbar«, sagte Kühnert – das trug ihm wutschäumende Entgegnungen ein, die vom Vorwurf der Nähe zum Stalinismus bis zur ­Unterstellung von Drogenkonsum reichten.

Auch der FDP-Vorsitzende Christian Lindner dürfte sich bestätigt fühlen. Ein Klima »der Planung, des Verbots und neuerdings auch der Enteignung« herrsche auch im Mainstream, klagte er bereits auf dem Parteitag Ende April. Dem Ansinnen der Berliner Enteignungsinitiative wollte Lindner gar per Grundgesetzänderung die juristische Grundlage entziehen. »Artikel 15 passt nicht zur sozialen Marktwirtschaft. Er ist ein Verfassungsrelikt und wurde aus gutem Grund nie angewandt«, sagte er dem Berliner Tagesspiegel. »Ihn abzuschaffen«, so Lindner, »wäre ein Beitrag zum sozialen Frieden und würde die Debatte wieder auf das Wesentliche lenken.«

Die Forderung nach Enteignungen rührt ans Allerheiligste des Liberalismus: dem Privateigentum. 

Anfang April hatten Zehntausende gegen die immensen Mietsteigerungen und die Verdrängung ärmerer Menschen aus den Großstädten protestiert – vor allem in Deutschland, wo die Wohnungssituation nicht nur in Berlin prekär ist, aber auch in anderen europäischen Metropolen wie Barcelona, Lissabon oder Amsterdam. Das Recht auf bezahlbaren Wohnraum, das »Recht auf Stadt«, das seit Jahren zahlreiche Ini­tiativen einfordern, ist offensichtlich ein Anliegen, das immer mehr Menschen teilen – zumindest in Kreisen jenseits des FDP-Klientel, in denen man nicht Wertpapiere und Familienjuwelen im Wandtresor gebunkert hat. Womöglich kündigt sich gar zaghaft eine dauerhafte europaweite Bewegung an. Zu wünschen wäre es: In Zeiten, in denen der Autoritarismus auf dem Vormarsch ist, braucht es Druck von unten, der soziale Fragen anstelle ­nationaler auf die Tagesordnung setzt. Ähnlich wie es die für Klimaschutz streikenden Schülerinnen und Schüler vormachen, die wohl auch deswegen den Hass der Rechten auf sich ziehen, weil es ihretwegen mal nicht nur die neuesten Verlautbarungen von AfD-Mitgliedern sind, die die Schlagzeilen bestimmen.

Allerdings fanden die Mietproteste bei weitem nicht überall Beifall, wie nicht nur das Beispiel Christian Lindners zeigt: Kommentare auf den Seiten der Welt über das Handelsblatt bis hin zur Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) spiegelten das Entsetzen darüber, was die unter den hohen Wohnkosten Leidenden auf den Straßen kundtaten. Besonderen Anstoß erregt das Volksbegehren in Berlin, das die Enteignung von Immobilienkonzernen fordert. Dumm und verantwortungslos sei die Idee, sozialistisch obendrein und außerdem vergraule sie potentielle Investoren (als wären die nicht gerade das Problem); die NZZ wollte gar »einen Hauch Honecker« verspürt haben.

Die Kämpfe gegen Verdrängung könnten ein Kampffeld werden, auf denen die Linke über nationale Grenzen hinweg endlich aus der Defensive kommt. 

Viele in der Bevölkerung scheinen jedoch hellsichtiger zu sein als die Meinungsmacher in Medienhäusern und Parteizentralen, die an antikommunistische Ressentiments appellieren. Je nach Umfrage befürwortet ein großer Teil, wenn nicht gar eine knappe Mehrheit Enteignungen im Immobiliensektor, was alle aufhorchen lassen sollte, die argwöhnen, linke Projekte seien nicht massentauglich. Die Kämpfe gegen Verdrängung könnten das Gegenteil beweisen – und eines der politischen Kampffelder werden, auf denen die Linke über nationale Grenzen hinweg endlich aus der Defensive kommt. Zumindest dann, wenn sie dem me­dialen und politischen Unterstellungen langfristig entgegenzuwirken vermag.

Das erklärt wohl auch die heftigen Reaktionen auf die Forderung nach Enteignungen. Diese rührt ans Allerheiligste des Liberalismus: Liberalen gilt ja gerade die Institution des Privateigentums als die Quelle des gesellschaftlichen Reichtums, weil sie den Fleißigen garantiert, die Früchte ihrer Hände Arbeit genießen zu können; erst so würde den Tüchtigen ein Anreiz ­geschaffen, mehr allgemeinen Wohlstand zu erwirtschaften. Dass dieses nette Märchen mit der historischen Entstehung des »freien« Markts und der kapitalistischen Praxis bloß entfernt zu tun hat, lässt sich wahlweise bei Karl Marx, den Enthüllungen zum Cum-Ex-Steuerskandal oder in Berichten über die Aktivitäten westlicher Rohstoffkonzerne etwa im Kongo nachlesen.

Marx schreibt im »Kapital« über die alternativen Fakten der damals wie heute vorherrschenden Schulökonomie: »In einer längst verflossenen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparende Elite und auf der anderen faulenzende, alles und mehr verjubelnde Lumpen.« So sei es nach dieser Auffassung dazu gekommen, dass Erstere »Reichtum akkumulierten und die Letzteren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut«. Genauso stand es tatsächlich ganz unironisch bei liberalen ­Vordenkern wie John Locke. In Wirklichkeit aber, so Marx, war die Heraus­bildung des Kapitals ein durch und durch gewalttätiger Prozess, der sich mittels Mord, Vertreibung und der Enteignung der Landbevölkerung vollzog; dies erst schuf die Masse Mittel­loser, die dann von den städtischen Eigentümern freudig in ihre Dienste ­genommen wurden.

Nicht nur in Sachen Wohnraum die Forderung nach Enteignungen en vogue ist: Auch in der digitalen Ökonomie wird immer wieder die Vergesellschaftung der IT-Giganten diskutiert. 

Der historische Rückblick lehrt also, dass der Klassenkampf in der Regel von oben initiiert wird – aus dem per se nie abgeschlossenen Streben nach Profitmaximierung; erst dann entsteht Widerstand von unten, sofern es denn gelingt, diesen zu organisieren. So ist es auch beim Siegeszug des Neoliberalismus in den vergangenen Jahrzehnten gewesen: Dessen Privatisierungspolitik zielte immer auf die Enteignung der Vielen zugunsten weniger. Eine Methode war, dass der Staat vormals in seiner Hand befindliche Unternehmen entäußert; eine andere, dass neu entdecktes Wissen, das ein Produkt gesellschaftlicher Kooperation ist und zudem in der Regel erst durch die Vorleistung öffentlicher Bildungseinrichtungen ermöglicht wird, unter strengen Patentschutz gestellt wurde. Wenn nun also im Namen eines allgemeinen »Rechts auf Stadt« Enteignungen zumindest im Immobiliensektor gefordert werden, ist das keine quasistalinistische Anmaßung, die aus dem Nichts käme. Es ist eher eine Form der Notwehr gegen die Zumutungen ungezügelter Marktkräfte.

Aufschlussreich ist überdies, dass nicht nur in Sachen Wohnraum die Forderung nach Enteignungen en vogue ist: Auch in der von Monopolen beherrschten digitalen Ökonomie – ebenfalls ein zukunftsträchtiges Konfliktfeld – wird immer wieder die ­Vergesellschaftung der IT-Giganten diskutiert. Immerhin speist sich ja der Wert, den Plattformen wie Facebook hervorbringen, fast allein aus dem Austausch der Nutzer, die ihre Ideen miteinander teilen; aus deren Sicht ist eigentlich nicht nachvollziehbar, warum die Netzwerkinfrastruktur privates Eigentum eines Konzerns sein soll, der aus ihren Interaktionen Daten extrahiert und dann mit mehr oder weniger dubiosen Methoden verwertet. Eine Plattform im Besitz aller wäre hier eine naheliegende Organisationsform.

Ähnliches gilt für das analoge Netzwerk namens »Stadt«: Auch die Attraktivität einer Metropole verdankt sich der Vielfalt der Menschen, die dort gemeinsam leben und tätig sind; diese produktive Pluralität macht die Stadt politisch und kulturell verlockend für alle, die der Enge der Provinz entfliehen wollen. Genau dies jedoch beuten die Immobilienkonzerne nicht nur aus, sondern sie zerstören die Diversität sogar, indem sie regelmäßig den urbanen Raum in sterile Konsumzonen für die Vermögenden verwandeln.

Es gibt also mehr als genug Gründe, die alte Frage neu aufzuwerfen, wer hier eigentlich die Profitabilität schafft – und wer Profite lediglich abschöpft. Daran wäre allerdings eine weniger leicht zu beantwortende Frage anzuschließen: Wie genau soll eigentlich nach erfolgter Enteignung – oder wie es einmal vor langer Zeit hieß: »Sozi­alisierung« – über die vormals in privater Hand befindlichen Güter verfügt werden? Etwa durch den Staat? Kühnert ließ in dem eingangs erwähnten Interview offen, wie er sich die Kollektivierung von Großkonzernen wie BMW vorstellt. Ihm sei weniger wichtig, ob am Ende auf dem Klingelschild von BMW »staatlicher Automobilbetrieb« oder »genossenschaftlicher Automobilbetrieb« stehe oder ob »das Kollektiv entscheidet, dass es BMW in dieser Form nicht mehr braucht«. ­Entscheidend sei vielmehr eine demokratische Kontrolle über die Verteilung der Profite. »Das schließt aus, dass es einen kapitalistischen Eigentümer dieses Betriebs gibt.«

Tatsächlich kann niemand die Renaissance gewaltiger bürokratischer Apparate wollen, wie sie einst der so­zialistische Osten und auch der keynesianisch orientierte Westen kannten – allein schon, weil es ja auch der Staat ist, der im Zweifelsfall seine Polizei losschickt, um den Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse niederzuknüppeln. Ein Argument dafür, das Übel namens Kapitalismus einfach hinzunehmen, wird daraus aber noch lange nicht.