Sergey Lagodinsky über die Zukunft Europas in einer sich verändernden Weltordnung

»Wir stecken in einer globalen Konfrontation«

Interview Von Carl Melchers

Sergey Lagodinsky (Die Grünen), Kandidat für das EU-Parlament, über europäische Politik und das besondere Verhältnis zu Russland.

Vorige Woche wurden Ihr Wahlkampf für das Europäische Parlament im NDR porträtiert. Am Ende des kurzen Films heißt es, mit einem Mandat im EU-Parlament wären Sie, der als »Flüchtlingsjunge« nach Deutschland kam, »endlich in ­Europa« angekommen. Wirklich erst dann?
Zunächst einmal würde ich mich nicht als Flüchtling bezeichnen. Der Weg von meiner Familie und mir hierher war nicht vergleichbar mit dem, was Menschen derzeit in Libyen oder Afrika durchmachen müssen, um überhaupt eine Chance zu bekommen, wie ich sie bekommen habe. Ich denke, ich bin schon lange hier angekommen und brauche dazu kein Mandat im Euro­päischen Parlament. Das wünsche ich vielen anderen, die in Europa ein Zuhause suchen.

Wie bringt man Europäer überhaupt dazu, sich als solche zu sehen?
Wenn es darum geht, wie wir ein ge­mein­sames Zugehörigkeitsgefühl in ­Europa organisieren, geht es darum, mitzunehmen und nicht auszugrenzen. Egal um welche Gruppe von Menschen es geht.

Aber wie geht man mit denen um, die nicht mitgenommen werden wollen?
Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen. Wie vermitteln wir Europa und eine offene, liberale Gesellschaft gegenüber Menschen, die damit wenig anfangen können? Ich glaube da nicht an den großen Wurf, sondern an beharrliche Arbeit. Die Abgeordneten im Eu­ropaparlament sollten bei ihren Wählerinnen und Wählern präsenter sein. Europa ist nicht Brüssel. Es fängt in Bran­denburg, in Hamburg und Berlin-Pankow an.

Lokal handeln, aber global denken?
Wir müssen anerkennen, dass wir mitten in einer globalen ideologischen Konfrontation stecken. Häufig werden aktuelle Konflikte, ob mit Russland oder der Türkei, nur als geostrategische Meinungsverschiedenheiten verstanden. Das greift zu kurz. Wir haben mittlerweile auch zwei konkurrierende Gesellschaftsentwürfe – den der offenen Gesellschaft mit starkem Minderheiten- und Grundrechtsschutz und einen traditionalistisch-repressiven Gegenentwurf, der sich ab 2008 immer deutlicher her­ausgebildet hat. Dieses Modell herrscht inzwischen nicht nur in Russland, sondern auch in der Türkei, in Ungarn, aber in Ansätzen auch in Polen oder gar in den USA.

Sie kommen selbst aus Russland und verstehen die Debatte dort leichter als viele Westeuropäer. Wie gewinnt man diese Konfron­tation?
Ich denke, wir müssen die Zivilgesellschaft und die Menschen in der Türkei oder in Russland vor ihren Despoten zu schützen. Zugleich müssen wir unser eigenes Modell verbessern und stärken, denn das der Despoten breitet sich aus.

Die EU ist unter deutscher Federführung gegenüber Griechenland als gnadenloser Zuchtmeister auf­getreten, unter dessen Austeritätspolitik die Bevölkerung verarmt ist. Wie soll die sich denn mit so einem Projekt noch identifizieren können?
Diese Form der Entsolidarsierung mit der griechischen Bevölkerung fand auch im Kontext einer moralischen Überhebung und einer mangelnden Selbstreflexion der politischen Klasse und der Medien in Deutschland statt. Selbst- und Fremdwahrnehmung Deutschlands klaffen stark auseinander. Bei der Migrationspolitik sagt man, die Polen und Ungarn ließen uns in Stich, dabei haben wir mit dem Dublin-II-Abkommen die Verantwortung auf Griechenland und Italien abgewälzt. Der zweite Punkt ist das Selbst­verständnis, wir seien diejenigen, die Europa retten, indem wir unsere Nachbarn am Mittelmeer kaputtsparen. Die deutsche Obsession mit Austerität und die deutschen Handelsüberschüsse sind schwer zu rechtfertigen. Wir sparen noch unsere eigene Gesellschaft kaputt, wenn es um Infrastruktur, Löhne oder Sozialleistungen geht. Das alles ist für unsere Nachbarn schwer nachvollziehbar. Und der dritte Punkt – Beispiel deutsch-rus­sische Gaspipline Nord Stream 2: Bei un­seren wirtschaftlichen und geostrategischen Vorstellungen nehmen wir die Existenzängste unserer Nachbarn nicht ernst.

Die deutsche Außenpolitik spricht gern vom besonderen Verhältnis zu Russland. Besteht da nicht tatsächlich eine historische Verpflichtung?
Das sehe ich auch so, aber für mich bedeutet das, solidarisch zu sein mit der russischen Bevölkerung. In Russland werden viele Menschen verhaftet, lediglich, weil sie demonstrieren wollen, oder strafrechtlich für Tweets oder Retweets verfolgt. Wenn wir über Russland und unsere historische Pflicht gegenüber den ­Ländern der ehemaligen Sowjetunion reden, dann geht es um Menschen, nicht um den Kreml. Wir schulden es ihnen, dass sie auch eine Chance ­bekommen auf zivilgesellschaftliche Freiräume. Wenn zudem in Deutschland von der historischen Pflicht gegenüber der Sowjetunion die Rede ist, ist damit meist nur die Russische Föderation gemeint. Was ist mit der Uk­raine, die komplett von deutschen Truppen besetzt war und deren Bevölkerung fürchterlich gelitten hat? Wie viele ukrainische und georgische Soldatinnen und Soldaten haben im Krieg gegen den Faschismus ihr Leben gelassen? Die ­besondere historische Verantwortung gilt genauso auch diesen Ländern ­gegenüber, also müssen wir auch über die russische Besetzung von Abchasi­en und Südossetien reden und weiterhin über die russischen Interventionen in der Ukraine. Das ist keine Abwertung der russischen Interessen, sondern ein ehrliches Gespräch über die Regeln des Zusammenlebens in Europa.

Fördern die seit 2014 von der EU verhängten restriktive Maßnahmen gegen Russland das Zusammenleben in Europa?
Diese Sanktionen wurden aufgrund eines konkreten Verhaltens eingeführt: Besetzung der Krim, Unterstützung von Separatisten in der Ostukraine. Dazu gehören Maßnahmen, die sich gegen bestim­mte Personen wegen konkreter Handlungen richten. Hebt man solche Sanktionen ohne Zugeständnisse auf, bedeutet es, dass jedes Land, das sich stark genug fühlt, einen Teil des Nachbarlandes annektieren kann. Fünf Jahre später ist das der neue und folgenlose Status quo.

Dieses neue Verhältnis zu territorialen Annexionen – stellt das nicht die internationale Nachkriegsordnung als solche in Frage?
Diese liberale Weltordnung ist nicht nur bedroht. Dieses Modell ist weg. Da muss man natürlich reflektieren und sich fragen, wie liberal war diese Ordnung denn tatsächlich. Ich persönlich als Transatlantiker fand die liberale Welt­ordnung attraktiv und zielführend, weil die Vereinigten Staaten als Demokratie und Zivilgesellschaft eine Inspi­ration waren, auch weil die liberale Welt­ordnung zumindest formal stark auf internationalen Institutionen und Multilateralität basierte. Man muss aber auch sehen, dass für den Rest der Welt die USA und Europa diejenigen waren, die den Kuchen verteilt haben. Zurzeit zerfällt diese Ordnung aus nachvollziehbaren Gründen: wegen des Aufstiegs von Ländern wie China und Indien, zum Teil aber auch aus Kurzsichtigkeit und Idiotie, die derzeit vor allem aus dem Weißen Haus kommen. Ich persönlich bin besorgt, weil eine Welt ohne Ordnungsrahmen zu einer totalen Chaotisierung führt.

Aber ist das nicht ein genereller Trend?
Man muss schon benennen, wo es herkommt. Die Zerstörung von Multilate­ralismus und internationalen Institutionen geht gerade vor allem von der Regierung Trumps aus. Auch die eigenen Institutionen, wie das State Department (das US-Außenministerium, Anm. d. Red.), werden kaputtgespart. Außenpolitik wird nicht mehr mit den Bündnispartnern abgesprochen, sondern nur noch mit solchen, die vermeintlich ähnlich denken oder gleiche Interessen verfolgen. Wir haben eine führende Gestaltungsmacht dieser liberalen Welt­ordnung, die nicht einmal daran interessiert ist, Strukturen und Vision zu entwickeln, wie wir diese Welt auch zusammenhalten wollen.

Wenn es tatsächlich eine Tendenz gibt, dass die Welt in regionale Machtblöcke zerfällt – wie sollte die EU in einer solchen neuen Ordnung auftreten?
Diese Selbstvorstellungskraft müssen wir erst entwickeln. Wir müssen schauen, wie wir eine gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Vision entwickeln, und eine innere und äußere Kohärenz strukturieren, die uns hilft, diese Vision umzusetzen. Das bedeutet wahrscheinlich auch den Abschied vom Einstimmigkeitsprinzip bei außenpolitischen Entscheidungen.

Damit machen Sie sich im Auswärtigen Amt aber keine Freunde.
Ja, da würden wohl auch Entscheidungen zustande kommen, die der deutschen Politik oder auch mir ganz persönlich nicht immer schmecken würden. Ich denke da auch an die Nahost-Politik. Die deutsche Politik bemüht sich traditionell um einen Ausgleich zwischen israelischen und arabischen Interessen. Neben dem Existenzrecht sind auch die Positionen und Interessen Israels etwas, das hochgehalten wird. Bei Mehrheitsentscheidungen würde dann kein Automatismus mehr bestehen. Daraus leite ich aber nicht ab, dass wir der EU außenpolitische Handlungsfähigkeit absprechen sollen.

Sondern?
Deutschland müsste sich dann viel intensiver um Mehrheiten bemühen. Die außenpolitische Impotenz der EU halte ich langfristig für viel riskanter, als mit Lösungen zu leben, die nicht allesamt unseren Vorstellungen entsprechen. Wir können nicht das gesamte Projekt EU in Verruf bringen aus Sorge, wir könnten nicht in jeder Sache das erreichen, was uns wichtig ist. Und da sind wir wieder bei Deutschland. Deutschland zieht sich regelmäßig zurück, anstatt zu sagen, wir müssen uns bei einem Thema engagieren und etwas erreichen. Stattdessen heißt es sofort, es klappt nicht, also kochen wir unser nationales Süppchen. Wir müssen uns daran gewöhnen, mit unseren Vorstellungen in einen Wettstreit mit anderen Europäerinnen und Europäern zu kommen und diesen Wettstreit gelegentlich zu verlieren. Europa ist eben keine deutsche Einbahnstraße.

Sergey Lagodinsky kam 1993 als sogenannter Kontingentflüchtling aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Er studierte in Göttingen Jura und promovierte in Berlin. 2001 wurde er Mitglied der SPD. Er gründete den Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und beteiligte sich am Bundesarbeitskreis der Integration und Migration beim Bundesvorstand der SPD. Aus Protest gegen die Einstellung des Parteiordnungsverfahrens gegen Thilo Sarrazin verließ er 2011 die Partei. Kurze Zeit später trat er Bündnis 90/Die Grünen bei, auf deren Liste er gegenwärtig für einen Sitz im Europäischen Parlament kandidiert. Mit der »Jungle World« sprach er über die Zukunft Europas in einer sich verändernden Weltordnung.