EU-Recht in der Flüchtlingspolitik

Mit allen Mitteln

Die EU will mit Repression, Abschreckung und juristischen Mitteln ihre Grenzen sichern. Für Hilfsorganisationen bedeutet das eine Kriminalisierung ihrer Arbeit.

Die autoritäre Entwicklung in der Europäischen Union setzt die Unterstützungsstrukturen für Flüchtlinge überall unter Druck, an den See- und den Landgrenzen und bis auf das jeweilige Staatsgebiet. Im schlimmsten Fall hat das juristische Folgen für diejenigen, die Geflüchteten helfen. Europäische Behörden haben im vergangenen Jahr 99 Menschen strafrechtlich verfolgt, weil sie sich für die humanitäre Hilfe von Flüchtlingen oder gegen deren Abschiebungen engagiert hatten. Im Fall der Crew des Schiffs »Iuventa« greift die zuständige italienische Staatsanwaltschaft sogar auf Strafnormen zurück, die sich gegen die organisierte Kriminalität richten. Den Betroffenen drohen bis zu 20 Jahre Haft. Indessen hat die EU ihre Seenotrettung im Mittelmeer ganz eingestellt. Seit Ende März sind keine Schiffe mehr dafür im Einsatz, son­dern es findet nur noch eine Beobachtung aus der Luft statt.

Das italienische Innenministerium will aus Gründen der öffentlichen Ordnung alle Häfen des Landes für Flüchtlingshilfsorganisationen schließen.

Die Kriminalisierung von humanitärer Hilfe ist kein Novum. Schon Mitte der nuller Jahre wurden Schiffsbesatzungen, die Menschen aus Seenot retteten, vor Gericht gestellt. Und bereits 2002 erließ die Europäische Union erstmals eine Richtlinie, der zufolge die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, Sanktionen für diejenigen festzulegen, die Personen vorsätzlich dabei helfen, in ihre Hoheitsgebiete einzureisen. In Deutschland geschah das zum Teil in den Paragraphen 95 bis 97 des Aufenthaltsgesetzes. Zwar sieht die Richtlinie keine Sanktionen vor, »wenn das Ziel der Handlungen die humanitäre Unterstützung der betroffenen Person ist«. Die Art der Umsetzung ist aber Sache der Mitgliedstaaten und in der Praxis treten die humanitären Ausnahmen oft hinter die ordnungspolitischen Sanktionen zurück. Auch in der Rechtsprechung der EU-Mitgliedstaaten sind Straf­sanktionen umstritten. In einer Reihe von Ländern wurde die Richtlinie ohne Hinzufügung einer humanitären Ausnahmeregelung umgesetzt, was in der Praxis zur Verfolgung von Solidaritätsaktionen führen kann.

Der französische Verfassungsrat entschied im Juli 2018, Menschen dürften nicht länger wegen humanitärer Hilfe für illegal Eingewanderte verurteilt werden. Dies widerspreche dem französischen Prinzip der »Brüderlichkeit«. Die Bei­hilfe zur illegalen Einreise bleibt jedoch auch in Frankreich strafbar. Ungeach­tet dieser Kämpfe vor Gericht können sich die europäischen Innenministerien und Strafverfolgungsbehörden gegenüber der Öffentlichkeit auf den Standpunkt zurückziehen, sie setzten mit ihrer rigorosen Sanktionspraxis nur  den allseits geforderten Schutz der EU-Gren­zen nur konsequent um. Wenn im Zuge von Wahlerfolgen Personen aus der extremen Rechten die Innenministerien und Behörden besetzen, wie Matteo Salvini von der Lega in Italien oder der mittlerweile entlassene Herbert Kickl von der FPÖ in Österreich, können sie mitunter den Handlungsspielraum von bereits existierenden Gesetzen mit ihrem autoritären Programm ausfüllen.

Das Europäische Parlament hat im Juli 2018 in einem Entschließungsantrag die »sehr eingeschränkte Umsetzung der in der Beihilferichtlinie vorgesehenen Ausnahmeregelung für humanitäre Hilfe durch die Mitgliedstaaten in nationales Recht« kritisiert. Das Parlament äußerte seine Besorgnis »angesichts der unbeabsichtigten Folgen des Beihilfe-Pakets für Bürger, die Migranten mit humanitärer Hilfe unterstützen.« Deswegen forderten die Parlamentarier die EU-Kommission dazu auf, Leitlinien für die Mitgliedstaaten zu erlassen, die klarstellen sollen, »welche Formen der Beihilfe nicht kriminalisiert werden sollen«. Der zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos teilte in einer Antwort an verschiedene Parlamentarier mit, dass nicht das EU-Recht selbst, sondern dessen Auslegung in den einzelnen Mitgliedstaaten das Problem sei. Die Kommission betonte dabei erneut, dass die Rettung von Men­schen aus Seenot eine völkerrechtliche Pflicht sei.

In der Studie »Fit for Purpose?«, die das Policy Department for Citizens’ Rights and Constitutional Affairs des Europäischen Parlaments in Auftrag gegeben hatte, heißt es, dass die Beihilferichtlinie ein »schlechtes Gesetz« sei, das es den Mitgliedstaaten ermögliche, Handlungen ohne »kriminelle Absicht« zu kriminalisieren. Ohnehin zeigt sich, dass der Appell an die EU-Mitgliedstaaten bisher nicht zur Einstellung von repressiven Maßnahmen geführt hat. Die EU verfügt kaum über wirksame Instrumente, um gegen nationale law and order-Ex­zesse vorzugehen.

Die Repressionsorgane zeigen sich darüber hinaus kreativ in ihrem Kampf gegen zivilgesellschaftliche Organisationen. Claus-Peter Reisch, der Kapitän der »Lifeline«, wurde von einem maltesischen Gericht nicht wegen der Rettung von Flüchtlingen aus Seenot und ihrer Verschiffung nach Europa verurteilt, sondern weil sein Schiff angeblich nicht ordnungsgemäß registriert war. In Ungarn brachte die Regierung von Viktor Orbán in den vergangenen Jahren Gesetze auf den Weg, die Sondersteuern von Organisationen erheben, die »Migration fördern«. Das un­garische Finanzministerium sagte, die Sondersteuer sei notwendig, weil die »Verteidigung gegen illegale Einwan­derung eine zusätzliche finanzielle Belastung« für den Staat darstelle.

Das italienische Innenministerium will sogar, aus »Gründen der öffentlichen Ordnung«, alle Häfen des Landes für Flüchtlingshilfsorganisationen schließen lassen. Hilfsschiffe sollen außerdem für jeden Migranten, den sie ohne Erlaubnis nach Italien bringen, 3 500 bis 5 500 Euro Strafe zahlen. Salvini plant dazu eine Notverordnung, allerdings vertagt das Kabinett immer wieder die Abstimmung über diese. In einem Brief an die italienische Regierung forderte die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Michelle Bachelet, am 15. Mai, Italien solle das Dekret zurückzuziehen.

Doch nicht nur das Strafrecht, sondern auch scheinbar harmlose Regelwerke wie das Steuerrecht oder die Regelungen über die Regis­trierung von Schiffen werden von autoritären Akteuren dazu genutzt, die Handlungsspielräume von Unterstützungsstrukturen stark einzuschränken.