Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung

Wer hat an der Uhr gedreht?

Arbeitgeber in der EU müssen künftig die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten erfassen. Dieses Urteil des Europäischen Gerichtshofs könnte in Deutschland angesichts der Zahl der unbezahlten Überstunden und des verbreiteten Arbeitszeitbetrugs erhebliche Auswirkungen haben.

Die Reaktionen auf das am Dienstag vergangener Woche verkündete Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zur Arbeitszeiterfassung könnten kaum unterschiedlicher ausfallen. Während die Welt die Wiedereinführung der Stechuhr befürchtet und Arbeit­geber einmal mehr vor zusätzlicher Bürokratie und dem Verlust von Arbeitsplätzen warnen, loben die Gewerkschaften die Entscheidung. »Das Gericht schiebt der Flatrate-Arbeit einen Riegel vor – richtig so«, sagte Annelie Buntenbach, die stellvertretende Bundesvorsitzende des DGB. »Die genaue Erfassung der Arbeitszeit liegt im ureigenen Interesse von Beschäftigten. Auch in Deutschland sind Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz in vielen Branchen an der Tagesordnung – etwa im Hotel- und Gaststättengewerbe«, sagte der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Gaststätten-Genuss (NGG), Guido Zeitler, und bezeichnete die Entscheidung des EuGH als ein »bahnbrechendes Urteil«.

Die Zahl der unbezahlten Überstunden ist in den vergangenen Jahrzehnten rasant gestiegen. 2017 sparten deutsche Unternehmen dank der Arbeit zum Nulltarif etwa 36 Milliarden Euro.

Tatsächlich könnte der Beschluss die Arbeitswelt hierzulande verändern. Im konkreten Fall hatte die spanische Gewerkschaft Federación de Comisiones Obreras eine Klage gegen die Deutsche Bank eingereicht, um die Erfassung der täglichen Arbeitszeiten in den spanischen Niederlassungen des ­Unternehmens zu erzwingen. Der EuGH hat entschieden, dass alle Mitglied­staaten der EU die Arbeitgeber verpflichten müssen, Systeme zur Erfassung der Arbeitszeit einzuführen. So sollen die Höchstarbeitszeitgrenzen und ­Ruhezeiten gewahrt werden, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Charta der Grundrechte der EU garantiert werden.

In Deutschland müssen Arbeitgeber, mit Ausnahme weniger Branchen, ­bisher lediglich die Überstunden erfassen, so sieht es das deutsche Arbeitszeitgesetz vor. Die Richter des EuGH stellten jedoch fest, dass ohne eine Messung der tatsächlichen täglichen Arbeitszeit jedes Arbeitnehmers ­weder die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden könne. Das Urteil berücksichtigt ausdrücklich auch Heimarbeitsplätze und den Außendienst, also Bereiche, in denen bislang kaum Arbeitszeiten dokumentiert wurden.

Die bisherigen unzureichenden Regelungen im deutschen Arbeitszeitgesetz nützen den Unternehmen. Seit Jahren ist Deutschland Europameister in Sachen Überstunden. Einer im April veröffentlichten Studie des Marktforschungsunternehmens Opinion Matters zufolge machen beispielsweise 71 Prozent der deutschen Arbeitnehmer regelmäßig Überstunden – der Spitzenwert in Europa. Etwa 2,2 Milliarden Überstunden leisteten die Beschäftigten ­allein 2017. Insbesondere das Ausmaß der unbezahlten Mehrarbeit ist in den vergangenen Jahrzehnten rasant ­gewachsen. Mehr als eine Milliarde, also etwa die Hälfte, der Überstunden werden weder bezahlt noch durch Freizeit ausgeglichen. 1992 war die Zahl der bezahlten Überstunden noch doppelt so groß wie die der bezahlten.

Diese Entwicklung ist profitabel für die Unternehmen. Die Arbeitgeber können auf Kosten der Beschäftigten ihre Produktionskosten verringern. 2017 sparten deutsche Unternehmen mit dieser Arbeit zum Nulltarif etwa 36 Milliarden Euro, wie im November aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei hervorging. Die unbezahlten Über­stunden wirken sich auch auf den Arbeitsmarkt aus. Dem DGB zufolge er­geben sie ein Pensum für etwa 1,2 Millionen Vollzeitarbeitsplätze mit einer durchschnittlichen tariflich vereinbarten Arbeitszeit.

Im Zuge einer Befragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und ­Arbeitsmedizin gab jeder dritte Beschäftigte mit mehr als zwei Überstunden in der Woche an, die Arbeit sei in der vereinbarten ­Arbeitszeit nicht zu erledigen. Ein weiteres Drittel nannte ­andere betriebliche Gründe für Überstunden. 14 Prozent verwiesen auf betriebliche Vorgaben. Nur 15 Prozent gaben an, aus Spaß an der ­Tätigkeit länger an ihrem Arbeitsplatz zu bleiben, und lediglich fünf Prozent führten Anreize durch eine zusätzliche Vergütung an.
Die Arbeitgeberverbände sehen in der wachsenden Zahl der Überstunden kein Problem. Die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) spricht von einem »konstant niedrigen Niveau« der Überstundenzahl. »Eine überwältigende Mehrheit der Erwerbstätigen in Deutschland ist mit ihrer ­Tätigkeit zufrieden. Insofern sollten wir keine Probleme herbeireden, wo keine sind«, ließ die BDA im Dezember wissen. Oliver Stettes vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln spricht von »viel Lärm um nichts«, die Zahlen seien Ausdruck der weiterhin guten wirtschaftlichen ­Entwicklung und der guten Arbeitsmarktlage.

Die Gewerkschaften kritisieren die Entwicklung scharf. »Die Arbeitgeber sind offensichtlich nicht bereit, für den Mehrbedarf, den es seit vielen Jahren gibt, ausreichend Arbeitskräfte einzustellen – sie brechen eher Arbeitszeitregelungen«, sagte der DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann im Dezember dem ZDF. Als einen »besonderen Skandal« bezeichnete Hoffmann die Tatsache, dass die Hälfte der Überstunden nicht vergütet werden. »Damit betreiben die Arbeitgeber nichts anders als Lohndiebstahl.«

Besonders ausgeprägt ist dieser im Niedriglohnsektor. Dem Mindestlohngesetz zufolge müssen bei Arbeitnehmern, deren Verdienst sich an der Lohn­untergrenze bewegt, zwar die Arbeitszeiten dokumentiert werden. Das Gesetz lässt jedoch zahlreiche Lücken, die dazu führen, dass etwa 2,7 Millionen Beschäftigte faktisch weniger als den Mindestlohn erhalten. In manchen Branchen ist die Umgehung der Mindestlohngesetzgebung geradezu alltäglich. So erhalten im Hotel- und Gaststättengewerbe 38 Prozent der Beschäftigten nicht den ihnen zustehenden Mindestlohn, im Einzelhandel sind es 20 Prozent und in der Nahrungsmittelindustrie 17 Prozent. In privaten Haushalten sind es sogar 43 Prozent. Eine der Ursachen hierfür sind die im Mindestlohngesetz vorgesehenen Aus­nahmen von der Arbeitszeiterfassung.

So besteht für Minijobber in Privathaushalten keine Aufzeichnungspflicht. Paketzustelldienste oder Transport­unternehmen müssen nicht den Beginn und das Ende der Arbeitszeit ihrer Beschäftigten, sondern nur die Dauer des Arbeitseinsatzes dokumentieren. Die Umgehung der Lohnuntergrenze wird ihnen so leicht gemacht. Bei nicht wenigen Taxiunternehmen werden beispielsweise die Standzeiten ­einfach nicht mitgerechnet und folglich auch nicht bezahlt.

Nicht selten zahlen Arbeitgeber auch nur für einen Teil der Arbeitszeit den Mindestlohn, während der Rest in Form unbezahlter Überstunden geleistet wird. Andere kürzen die Zeit­vorgaben. Zusteller bekommen so beispielsweise die Anweisung, einen ­Bezirk in vier Stunden abzufertigen, brauchen aber in Wirklichkeit doppelt so lange und erhalten effektiv nur die Hälfte des gesetzlich festgeschriebenen Lohns.

Mit der Verpflichtung zur generellen Arbeitszeiterfassung könnten Tricks und Betrug beim Mindestlohn erschwert werden, der Lohnraub durch unbezahlte Überstunden ließe sich eindämmen. Ob und wie das ­Urteil des EuGH hierzulande verwirklicht wird, ist nun jedoch Sache der Bundesregierung. »Das Urteil weist in die falsche Richtung«, sagte der Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) in der vergangenen Woche. »Es ist der falsche Weg, die Stechuhr wieder überall einzuführen.« In Deutschland habe sich das Modell der Vertrauensarbeitszeit herausgebildet, mit dem sehr viele Arbeitnehmer und Arbeitgeber gute Erfahrungen machten. Altmaier kündigte an, die Vorgabe des EuGH zunächst genau prüfen zu ­lassen. Zudem soll in einem Rechtsgutachten festgestellt werden, ob überhaupt Handlungsbedarf bestehe. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil (SPD), hatte zuvor zwar gesagt, sein Ministerium werde »in der zweiten Jahreshälfte Vorschläge machen, wie wir die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Lichte des Urteils sichern«. Er hatte jedoch auch betont, »unnötige Büro­kratie« bei der Aufzeichnung der Arbeitszeiten vermeiden zu wollen. Das klingt nicht so, als würde die SPD allzu großen Widerstand leisten, sollte die Union die Umsetzung des Urteils torpedieren.