Stonewall und die Folgen

Weltweit verschwult

In New York kämpften vor 50 Jahren Schwule, Lesben und Trans-Menschen in der Christopher Street gegen Polizeiwillkür. Der Aufstand hat die Welt verändert. Heute sind Pride-Märsche ein Gradmesser für die Freiheit einer Gesellschaft.

Die Aufstände an und in der New Yorker Bar Stonewall Inn vor 50 Jahren waren ein Fanal schwul-lesbischer Bewegungsgeschichte. Stonewall gilt als Symbol für die Errungenschaften der Schwulen- und Lesbenbewegung, als entschiedener Einspruch gegen die Ausgrenzung und Diskriminierung, der Queers ausgesetzt waren, als Artikulation des Widerwillens, die Zumutungen einer von heterosexueller Normierung und von Gewalt gegen das sexuell Abweichende dominierten Gesellschaft weiter zu ertragen.

Die Schwulen- und Lesbenbewegung der siebziger Jahre deutete die Perversion selbstbewußt um: von etwas Schambesetzten in die Möglichkeit des sexuellen Glücks.

Die riots am Stonewall Inn fanden im Kontext der Rebellion der sechziger Jahre statt. Mit ihr ging nicht nur Popmusik um die Welt, sondern auch die Idee einer grundsätzlich anders eingerichteten Welt. Eine Errungenschaft dieser Zeit sind die Liberalisierung der Geschlechterverhältnisse und die veränderte Bedeutung des Sexuellen, die ohne den Einfluss  der Schwulen- und Lesbenbewegung nicht denkbar gewesen wäre. Konformismus, christ­liche Doppelmoral, Patriarchat, die Reduktion von Sexualität auf Fortpflanzung sowie das Diktat der Heterosexualität und der Kleinfamilie wurden ­radikal in Frage gestellt. So forderten deutsche Schülerinnen und Schüler nicht nur eine lustbejahende Sexualerziehung, sondern gleich Räume an den Schulen, in denen sich miteinander vögeln ließe, wie es die Publizistin Ulrike Heider in ihrem Buch über die »Sexrevolte von 1968« beschreibt.

Der »politische Geniestreich«, sagt der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker rückblickend, habe darin bestanden, der Mehrheitsgesellschaft abzuverlangen, »die Homosexualität als das zu akzeptieren, was der alte ­antihomosexuelle Diskurs aus ihr gemacht hat: eine andersartige und mit Normalität nicht zu vereinbarende Lebensform«. Die bundesdeutsche Schwulen- und Lesbenbewegung der siebziger Jahre war von ihrer Kom­promisslosigkeit und ihrer selbstbewussten Umdeutung der Perversion von etwas Schambesetzten in die Möglichkeit des sexuellen Glücks der ­Außenseiter und Außenseiterinnen gekennzeichnet.

Die Schwulen-, Lesben- und Transbewegung ist eine der erfolgreichsten Bürgerrechtsbewegungen in der westlichen Welt.

Die Schwulen-, Lesben- und Transbewegung ist nunmehr eine der erfolgreichsten Bürgerrechtsbewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts in der westlichen Welt: Die Kriminalisierung von (zumeist männlicher) Homosexualität hat vielerorts ein Ende gefunden. Das Coming-out birgt zwar immer noch die Gefahr des Liebesentzugs von Familien­angehörigen, geht aber nicht mehr zwingend mit Ausgrenzung und Stigmatisierung einher; gesellschaftliche Institutionen und Unternehmen fördern in vielen Ländern Programme zur Akzeptanz gleichgeschlechtlicher ­Lebens- und Liebensweisen; homosexuelle Elternschaft ist einfacher möglich; es gibt Gesetze gegen Diskriminierung und Richtlinien zum Schutz vor Gewalt. Ganz entscheidend ist dabei vor allem auch die gesellschaftliche und mediale Präsenz von Homosexualität und Transidentitäten.

Diese Prozesse sind nicht allein als Verbesserung der Lebenssituation von Lesben und Schwulen zu verstehen, sondern brachten oft fortschrittliche Veränderungen für alle Menschen, ­insbesondere auch für die heterosexuellen. Der ehemalige SDS-Vorsitzende und Psychoanalytiker Reimut Reiche wies Anfang der neunziger Jahre auf diesen Umstand hin und sprach von der »Homosexualisierung der Hetero­sexualität«. Serielle Monogamie, die Körperpflege und Ästhetisierung des männlichen Körpers, der Fitnesskult und die Aufweichung der Geschlechter­stereotype als Aspekte einer modernen Heterosexualität – oder einer modischen Metrosexualität – seien gleichsam Spuren der Schwulen in heterosexuellen Lebensweisen. Für die Homosexuellen sei wiederum ihre Heterosexua­lisierung zu konstatieren: Kinderwunsch und Kinderkriegen, Lebenspartnerschaft und Homoehe, Zunahme sexueller Störungen.

In 82 Ländern wird Homosexualität mit Haft bestraft. In islamisch geprägten Ländern existiert sogar noch die Todesstrafe.

Während also die Lebenswelten Homo- und Heterosexueller durch die Schwulen- und Lesbenbewegung eine gewisse Annäherung und Angleichung erfahren haben, sind die politischen Demonstrationen der LSBTI-Bewegung zum Gradmesser von Freiheit und ­Demokratie geworden. Die als Reaktion auf die Stonewall-.Auseinandersetzungen entstandene Tradition der Pride-Märsche – der Christopher Street Day (CSD) verweist auf die Christopher Street, in der sich das Stonewall Inn befand – ist dabei von zentraler Bedeutung. Ob und in welcher Form in einem Land ein Pride-Marsch stattfinden kann, ob er Schutz durch die Polizei benötigt und erhält oder ob die Beteiligten von rechten Gruppen oder Ordnungskräften am Demonstrieren gehindert oder angegriffen werden und ob Pride-Märsche die Aufmerksamkeit und Unterstützung des politischen und medialen Establishments erhalten, sagt viel über den Status von Minderheiten, politischer Opposition und der Meinungsfreiheit aus. Es ist kein Zufall, dass die reaktionäre Entwicklung in postsowjetischen Staaten oft mit Angriffen auf Pride-Demonstrationen einhergeht, sei es durch die organisierte extreme Rechte und christliche Fundamentalisten oder durch die Polizei.

Die jährliche Pride-Demonstration in Istanbul etwa leidet unter dem ein­geschränkten Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Die öffentliche und symbolische Parteinahme für die Rechte von Homo-, Bi- und Trans­sexuellen ist in Russland strafbar und wird teilweise hart verfolgt. In 82 Ländern wird Homosexualität mit Haft bestraft. In islamisch geprägten Ländern wie Iran, Mauretanien, Nigeria, Saudi-Arabien, Somalia, Sudan und Jemen existiert sogar noch die Todesstrafe. An öffentliche Demonstrationen für die Rechte von Homosexuellen und die Entkriminalisierung der Homosexualität ist vielerorts noch immer nicht zu denken.

Die derzeitige linke Kritik an der schwul-lesbischen Emanzipations­geschichte wertet diese beispielsweise als »neoliberal vergiftet« ab, wie Volker Woltersdorff es 2017 in seinem Text »Zwischen Homotoleranz und Homophobie. Sexuelle Differenz in Zeiten neoliberaler Ungleichheit« formuliert. Lesben, Schwule und Transpersonen müssen jedoch gar nicht links sein, um ein Leben frei von Diskriminierung und Gewalt führen zu wollen. Sie sind, wie Martin Dannecker sagt, der »Brüchigkeit gesellschaftlicher Toleranz« ausgesetzt. Die bringt immer noch die implizite Aufforderung an Homosexuelle mit sich, sexuell harmlos zu sein. Diese Unvollkommenheit schwul-lesbischer Emanzipation in der westlichen Welt und die unvollendete Globalisierung sexueller Liberalisierung für alle Menschen sind heute das Problem.

Hubert Fichte, bisexueller Literat und Ethnograph, hat die Lösung einst so formuliert: »Ich kann mir die Freiheit, wenn ich ehrlich bin, nur als eine gigantische, weltweite Verschwulung vorstellen«.