»Clan-Kriminalität«

Sippe und Sippenhaft

Die Deutschen diskutieren über »kriminelle arabische Großfamilien«. Schert man dabei Migranten über einen Kamm?

Am 27. September 2015 gewann Thomas Kufen die Oberbürgermeisterwahl in Essen. Im Wahlkampf war der Christdemokrat auch von dem Verein Familien-Union unterstützt worden. Ein Foto vom Wahlabend zeigt, wie ein Vereinsmitglied dem Sieger gratuliert. Die 2008 gegründete Organisation setzt sich ihrer Selbstdarstellung zufolge »für eine bessere Situation im Zusammenleben von Migranten, insbesondere Familien, die aus dem Libanon ein­gereist sind, und Deutschen« ein; Konflikte sollen friedlich gelöst, Eskala­tionen verhindert werden.

»Politische Hetze gegen Minderheiten wie früher die NSDAP.«

Die Familien-Union ist nicht irgendein Verein. Der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) zufolge ist sie »ein einflussreicher Dachverband von mehr als zwei Dutzend libanesisch-kurdischen Großfamilien«, andere Be­obachter teilen die Einschätzung. Der Verein gehörte in Essen dazu, nicht nur bei der Wahlfeier des Oberbürgermeisters. Er entwickelte zusammen mit der Stadtverwaltung Integrationsprojekte, arbeitete mit der Polizei und der Arbeiterwohlfahrt zusammen. Als Ahmad Omeirat, ein Mitglied einer kurdisch-libanesischen Familie, 2014 einen Listenplatz bei den Grünen für die Kommunalwahl erhielt, war die ­Familien-Union zufrieden. Omeirat, schrieb sie seinerzeit, sehe »sich als Brückenbauer zwischen denjenigen, die den Weg zum anerkannten Teil der Bürgerschaft noch vor sich haben, und den nicht wenigen, die das bereits erreicht haben«.

Omeirat wurde in den Essener Rat gewählt. Seit Juni lässt er sein Mandat allerdings ruhen. Der Grünen-Politiker hatte auf Facebook anlässlich einer Rede des CDU-Landespolitikers Gregor Golland über sogenannte Clan-Kriminalität geschrieben: »Wenn jemand ­wissen will, wie die NSDAP früher pauschal gegen Minderheiten politische Hetze betrieben hat, der muss sich mal die heutige Rede von dem Lügner ­Gregor Golland anschauen.« Die Landesführung der Grünen schritt ein.

Tradition und Religion statt Individualismus

»Clan-Kriminalität« – über das Thema wird zurzeit nicht nur in Nordrhein-Westfalen diskutiert. In der vergangenen Woche wurde Ibrahim Miri aus Bremen in den Libanon abgeschoben, die SZ und andere Medien bezeichnen ihn als den »führenden Kopf des Miri-Clans«. Er sei ausreisepflichtig gewesen, sagte die Bremer Innenbehörde. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) sprach von »einem erfolgreichen Schlag gegen die Clan-Kriminalität«. Essen gilt neben Berlin und Bremen als ein Zentrum des Problems. Aus dem Umfeld sogenannter Clans kamen dem nordrhein-westfälischen Innenminis­terium zufolge zwischen 2016 und 2018 2.439 Tatverdächtige.

»Multikulturalismus ist eine reaktionäre Ideologie, die davon ausgeht, dass alle Kulturen irgendwie okay sind.«

Auch bundesweit sorgen kriminelle Clan-Mitglieder aus Essen für Schlag­zeilen. Der aus dem Libanon stammende Berliner Publizist Ralph Ghadban ver­öffentlichte im vergangenen Jahr das Buch »Arabische Clans: Die unterschätzte Gefahr«. Danach wurde er nach eigenen Angaben aus dem Kreis der ­Essener Familien-Union so stark bedroht, dass er zurzeit unter Polizeischutz steht. Eine Anfrage der Jungle World hierzu ließ die Familien-Union unbeantwortet.

Nach Ghadbans Urteil war die Zusammenarbeit der Stadt Essen mit Mitgliedern der betreffenden Familien immer ein Fehler. »Am Anfang«, sagt er im Gespräch mit der Jungle World, »war es naiv. Am Ende war es Dummheit.« Der Glaube, man könne die Probleme mit den Clans lösen, indem man sie umarme, sei ein Ausdruck des Multikulturalismus. »Multikulturalismus ist eine reaktionäre Ideologie, die davon ausgeht, dass alle Kulturen irgendwie okay sind. Soziale Verhältnisse, Klassen, die eigentlichen Ideen der Linken, spielen da keine Rolle mehr. Es geht nur noch um irgendwelche Identitäten. Diese Ideologie stellt überkommene Traditionen und Religionen über den Individualismus.« Ghadban hält Aussteigerprogramme für eine Möglichkeit, Menschen von den Clans zu lösen.

Etwa jedes dritte Mitglied solcher Großfamilien sei kriminell, sagt ein Angehöriger einer der bekannten ­Familien in Essen, der anonym bleiben möchte, dieser Zeitung. Niemand ­werde gezwungen, kriminell zu werden, aber es sei für viele eine vergleichsweise einfache Art, an Geld heranzukommen. Die kriminellen ­Zweige der Clans seien autoritär strukturiert, hätten auch Kontakte zur ­Hizbollah, weil die nun einmal ein Machtfaktor im Libanon sei, an dem man, wenn man Geschäfte machen ­wolle, nicht vorbeikomme, so der Gesprächspartner.

Einzelne Menschen, keine Sippen

Die Stadt Essen beendete die Zusammenarbeit mit der Familien-Union ­bereits Ende des vergangenen Jahres, verkündete dies jedoch erst nach den Drohungen gegen Ghadban im Frühjahr. »Der Verein Familien-Union e. V. spielt aus Sicht der Stadt Essen bei der Integration keine relevante Rolle mehr«, sagt Oberbürgermeister Kufen auf ­Anfrage der Jungle World. »Seit Amtsantritt verfolgen Stadt und Polizei ­gemeinsam die Null-Toleranz-Strategie gegen beispielsweise Clan-Kriminalität.« Er fügt hinzu: »Ich will ausdrücklich nicht alle Menschen über einen Kamm scheren.«

In der Politik herrscht keine Einigkeit über den Umgang mit kriminellen Clan-Mitgliedern. Selbst der Begriff des Clans ist unscharf.

Einigkeit über den Umgang mit kriminellen Clanmitgliedern herrscht bei ­Essens Parteien nicht. Denn selbst der Begriff des Clans ist unscharf. »Der Begriff ›Clan‹ ist in der Debatte relativ neu. Was genau ein Clan ist, ist noch nicht bestimmt, weswegen ich diesen Begriff auch nicht verwende«, sagt etwa Jules el-Khatib vom Landesvorstand der Linkspartei. »Auch wirkt er diskriminierend gegenüber den Menschen, die als ›Clanmitglieder‹ bezeichnet werden und den ­negativen Folgen dessen ausgesetzt sind.«

Auch Thomas Fischer, ein ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof, erörterte kürzlich auf Spiegel Online die Probleme des Begriffs. Er wies darauf hin, dass es »bei der Kriminalität um einzelne Menschen« gehe, »nicht um ­Sippen«. Damit eine ganze Familie als solche die Bezeichnung »kriminell« verdiene, müsse »mehr geschehen als Straftaten einzelner und (rechtmäßige) Zeugnisverweigerungen von Angehörigen«. Der Begriff »kriminell« sei, wenn er »nicht für eine Tat, sondern für Menschen verwendet« werde, schon »für sich problematisch«.

Über die Herkunft der Opfer führt das nordrhein-westfälische Innen­ministerium zwar keine Statistik. Im Fall der Stadt Essen gibt es aber ­Anhaltspunkte: Medienberichte legten nahe, dass »die häufigsten Betroffenen ebenfalls libanesisch-kurdische Essenerinnen und Essener sind«, so ­el-Khatib.

Der Essener Integrationspolitiker Martin Schlauch (SPD) kommt zu ­einem ähnlichen Schluss: »Die direkte Bedrohung für Essener Bürgerinnen und Bürger schätzen wir als eher gering ein, da die Clans meist unter sich bleiben.« Allerdings bestehe für Neuzugewanderte insbesondere aus dem ara­bischen Raum »ein besonderes Gefährdungspotential«. Syrische Flüchtlinge seien von den Clans sehr schnell als Zielgruppe entdeckt und für Botengänge, Tabakschmuggel, Drogenhandel und sonstige kriminelle Handlungen ge­ködert worden. »Zudem gibt es immer wieder überteuerte Mietmodelle in durch Geldwäsche erworbenen Immobilien, mit denen Flüchtlinge abgezockt werden.«