Das Reich der Freiheit beginnt nach Ladenschluss

Karl Marx im Späti

Wer Spätis an Sonntagen schließen will, schützt nicht das Prekariat vor und hinter der Kasse, sondern macht ihm Freiheit streitig.

Was in Deutschland recht und richtig ist, steht nicht etwa im Grund­gesetz, sondern im Duden. Das Grundgesetz nervt, es muss mühsam interpretiert werden, gilt mal so, mal so, und ändert sich. Der Duden ist deutlicher. Das Wort »Späti« führt er seit 2017 und beschreibt ihn als »über den allgemeinen Ladenschluss hinaus geöffnete Verkaufsstelle«. Dieser Definition macht das Grundgesetz sogleich einen Strich durch die Rechnung, etwa beim Artikel  140: »Der Sonntag und die staatlich an­erkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.«

Man möchte seinem inneren Ulf Poschardt zuhören und sagen: Wenn die Linke gegen Spätis ist, hat die Freiheit in Deutschland keine Zukunft mehr.

Da nun das Grundgesetz oft Auslegungssache ist, kann man sich darüber streiten, was ein Laden ist, was darin verkauft wird und wann er schließen soll. In Berlin monierte die Arbeitssenatorin Elke Breitenbach von der Linkspartei, dass Spätis keine Ausnahme von der gesetzlich verordneten »Arbeitsruhe« und »seelischen Erhebung« darstellen dürfen und folglich sonntags geschlossen haben sollten, ein Urteil des Verwaltungsgerichts in Berlin bestätigte dies Anfang Juli. So richtig erlaubt war die Sonntagsöffnung ohnehin nie, geduldet wurde sie dennoch. Es brauchte jemanden, der die Gefahr witterte, die von einer solchen Duldung ausgeht. Der heilige Sonntag ist gerettet, zumindest solange er nicht die noch heiligere Marktwirtschaft bedrängt. Verkaufsoffene Sonntage darf es nämlich dennoch geben, an Tagen von »herausragend gewichtigen öffentlichem Interesse« wie der geheiligten Berlin Art Week. Und der Senat und die Gerichte ruhten am siebenten Tage von allen ihren Werken.

Unruhig schlafen hingegen seitdem die Spätibetreiber. Alper Baba, Spätibetreiber und Vorsitzender des Vereins Späti e. V., sagte der Berliner Morgenpost, der umsatzstarke Sonntag sei für die Verkäufer elementar. Nun suchen die Inhaber fieberhaft nach Möglichkeiten, ihre Läden, von denen es allein in der Hauptstadt etwa 1 000 Stück geben soll, am Sonntag zu öffnen. Einige löschen das Licht, lassen die Tür einen Spalt breit offen und gehen so fürs Ordnungsamt – nicht aber für die wissende Stammkundschaft – als geschlossen durch.

Spätibetreiber werden kreativ

Andere werden kreativer: Ein Späti in Friedrichshain verkauft seit Kurzem eine abstoßende Menge an Touristenandenken, denn – logisch – Verkaufsstellen, die »touristischen Bedarf« vertreiben, dürfen sonntags öffnen. Kein Berlin-Tourist soll am Sonntag auf seinen Brandenburger-Tor-Kühlschrankmagneten verzichten müssen. Und wer sie kennt, die Touristen, der weiß: An einem sonnigen Wochenendtag suchen sie nie nach Getränken, Zigaretten oder Tampons, sondern nach Postkarten, Wimpeln und Winkekatzen.

Wer gerne feiert, fürchtet den Verlust der Kulturtechnik »öffentliches Saufen«, die in Reiseführern als einzigartiges Berlin-Erlebnis angepriesen wird.

Damit nicht genug: Es soll Spätis geben, die nur öffnen, wenn man sich vor sie stellt und klopft oder ein ­geheimes Codewort ruft. »Saufen!« etwa, oder: »Tanken!« Andere Kioske versuchen, sich schnell zur realen Tankstelle umzuschummeln, indem sie eine Steckdose am Laden anbringen – und damit aufgrund der gesetzlich geschützten Notwendigkeit, sein E-Bike am Sonntag laden zu können, öffnen dürfen. So viel steht nämlich fest: Der Deutsche will jederzeit sein Gefährt befüllen, nicht aber seinen Schlund. Wer am Sonntag saufen möchte, soll gefälligst in ein entsprechendes Etablissement einkehren oder vorsorglich den Kühlschrank vollstopfen. Natürlich ließe sich auch bestellen: »MySpäti« heißt zynischerweise eine App, die derzeit in Berlin groß beworben wird. Damit lassen sich klassische Artikel eines Spätkaufs nach Hause liefern. Der Markt wittert seine Chance und man spürt förmlich, wie die Spätihändler in der niemals ruhenden Hauptstadt aufatmen, weil sie nun endlich einen Tag weniger zum Verdienst genötigt werden, der ihnen am Monatsende empfindlich fehlen wird.

Sorge bereitet Kritikern des Sonntagsöffnungsverbots nicht etwa die ökonomische Situation der Späti­betreiber, die nicht selten im Alleingang täglich zwölf Stunden und länger die Partyhauptstadt mit Konsumgütern versorgen, wofür sich die Feiernden bedanken, indem sie selbige nicht selten vor den Läden unfreiwillig wiederkäuen. Sorge bereitet ihnen der Verlust der Kulturtechnik »öffentliches Saufen«, das nicht zuletzt in so manchem Tourismusratgeber als einzigartiges Berlin-Erlebnis angepriesen wird. Wer den Spätkauf nicht direkt nötig hat, bangt um die »Kiezkultur«.

Der Späti als Freiheitsgarant

Mit diesem ideologischen Euphemismus für die individuelle Erträglichmachung hyperentfremdeter Städte aber hatte der Späti ohnehin nie etwas zu tun. Er wurde geboren aus den Arbeitsbedingungen und entwickelte sich nicht zufällig in den Großstädten, den Hochburgen prekärer Arbeitsverhältnisse, am zahlreichsten. Bekannt sind vor allem Städte im Osten wie etwa Leipzig und Dresden für ihre Spätis, die der DDR-Arbeiterkultur entstammen. Die ­Läden hatten damals die Schichtarbeiter mit Artikeln des täglichen Bedarfs versorgt. Dieses Reich der Notwendigkeit ist in Teilen überwunden, und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet eine linke Arbeitsministerin im Sinne des Arbeitsschutzes argumentiert, wenn sie dieses kleine Tor zur Freiheit wieder schließen will. Man möchte seinem inneren Ulf Poschardt zuhören und sagen: Wenn die Linke gegen Spätis ist, hat die Freiheit in Deutschland keine Zukunft mehr.

Solchen Kritikern erwidert die ­Senatorin Breitenbach scharf, der Späti sei »nicht in erster Linie ein ­Lebensgefühl, sondern ein Ladengeschäft«. Blöd für die, die sich im ­Laden dank des Lebensgefühls eine Existenz aufgebaut haben. Blöd auch für die, die dank Flexibilisierung der Arbeitswelt (wieder) wie einst so viele Schichtarbeiter zu Unzeiten arbeiten – etwa die vielen Verborgenen in der Gastronomie, in den Clubs, Hotels oder in den Irrenhäusern der Start-ups. Am lautesten weinen um den sonntäglichen Einkauf jene, die an jedem anderen Tag einkaufen können. Am empfindlichsten trifft es aber die, deren flexibilisierter Feierabend keine Rücksicht auf göttliche Ruhetage kennt. Ein Freiheitsgarant ist der Späti für beide.

Nicht umsonst verlangte ein ge­wisser bärtiger Philosoph für den Eintritt ins »Reich der Freiheit« schon vor 150 Jahren eine Verkürzung des Arbeitstags. Was könnten die Genossen von ihm alles lernen! Etwa, wie die »Bedürfnisse sich erweitern«, weil sich die »Produktivkräfte erweitern« und umgekehrt – ohne dass der Zwang zur Arbeit jemals weniger würde. Wenn die Senatorin also erreichen will, was in ihrem Interesse liegen könnte – der Schutz der Arbeitnehmer –, müsste sie nicht den schon lange nicht mehr heiligen, für die Erbauung reservierten Sonntag schützen. Eher könnte sie den der Marktwirtschaft heiligen Werktagen, reserviert für die Tätigkeit, ­Beschränkungen auferlegen. Krieg gegen die Spätis bedeutet Krieg ­gegen die Arbeiter, vor und hinter dem Verkaufstresen, nicht aber gegen die Arbeit selbst.

Womöglich interessiert sie das aber gar nicht, schließlich ließ sie verlauten, zur Debatte stünde nicht ihre »persönliche Meinung«, sondern »die Umsetzung eines geltenden Gesetzes.« Das klingt, als ginge es um die korrekte Silbentrennung, aber selbst solch Ordnungsamt-Positivismus á la Boris Palmer kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gesetze im Gegensatz zur Grammatik auszulegen sind. Auch das Grundgesetz.