Parlamentswahlen in der Ukraine

Der Diener wird Chef

Der Sieg des Fernsehkomikers Selenskyj bei der ukrainischen Präsidentschaftswahl galt bereits vielen als Sensation. Nun hat seine Partei im Parlament die absolute Mehrheit errungen.

Bereits der überdeutliche Sieg des ehemaligen Komikers Wolodymyr Selenskyj bei der ukrainischen Präsidentschaftswahl im April galt vielen als Sensation: 73 Prozent der Stimmen für einen Schauspieler ohne politische Erfahrung. Dies galt damals als klare politische Abrechnung; zum einen mit dem nationalistischen Programm seines Vorgängers Petro Poroschenko, der in den letzten Jahren seiner Amtszeit im Sinne seines späteren Wahlmottos »Armee, Sprache, Glauben« handelte; zum anderen mit dem gesamten hergebrachten politischen System.

Selenskyj ist auch Monate nach seinem Amtsantritt der beliebteste Politiker des Landes.

Drei Monate später hat Selenskyj mit seiner neuen Partei »Diener des Volkes« auch noch die absolute Mehrheit im Parlament gewonnen. Benannt ist diese nach der satirischen Fernsehserie, in der Selenskyj einen ehemaligen Geschichtslehrer spielte, der plötzlich zum ukrainischen Präsidenten wird. Die Partei hat keine aktiven oder ehemaligen Abgeordneten in ihren Reihen, auch die Zahl bekannter Persönlichkeiten ist gering. Im ukrainischen Wahlsystem, in dem die Hälfte der Parlamentsabgeordneten über ­landesweite Parteilisten, die andere Hälfte per Direktmandat in Wahlkreisen ­gewählt wird, schien das eigentlich kein erfolgversprechendes Konzept zu sein. Zwar ist Selenskyj auch wenige Monate nach seinem Amtsantritt am 21. Mai der beliebteste Politiker des Landes, doch in den Regionen stimmt man normalerweise für bekannte Gesichter, was für die Partei »Diener des Volkes« von Nachteil gewesen wäre.

Dessen waren sich auch ihre ­Vertreter bewusst. Während die Partei bei den Parlamentswahlen am Sonntag – die nach der Auflösung des Parlaments durch Selenskyj im Mai vorgezogen worden waren – fest mit über 40 Prozent der Stimmen für die Parteiliste rechnen konnte, gab man sich am Wahlabend bezüglich der Direktmandate recht zurückhaltend: Man habe zwar in der Hauptstadt Kiew alle 13 Wahlkreise ­gewonnen, im ganzen Land komme man aber nur auf etwa 80 Direktmandate. Es hieß also, »Diener des Volkes« habe mehr als 200 Sitze im neuen Parlament, für die absolute Mehrheit (226 Stimmen) werde der aber nicht reichen.

Fraktion unter Kontrolle?

Am Montag wurde nach der Aus­zählung von über zwei Drittel der Stimmen jedoch klar: »Diener des Volkes« verfügt in der nächsten Werchowna Rada, dem Einkammerparlament der Ukraine, über 250 Sitze und kann da­mit als erste Partei seit der Lösung des Landes aus der Sowjetunion allein die Regierung stellen. Dabei hatte der Partei­vorsitzende Dmytro Rasumkow zuvor bereits über eine mögliche Koalition mit der ebenfalls neuen, liberalen Partei »Stimme« des Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk gesprochen. Nun scheint eine Koalition nicht mehr nötig zu sein.

»Das ist eine große Verantwortung«, sagte Selenskyj am Sonntagabend, noch ohne zu wissen, dass es für die absolute Mehrheit reichen sollte. Der 41jährige nannte die Beendigung des Krieges im Donbass und den Kampf gegen Korruption als Prioritäten. Außerdem sollen bald ein Amts­ent­hebungs­gesetz für das Staatsoberhaupt sowie Gesetze über die Aufhebung der strafrechtlichen Immunität für Abgeordnete, den Präsidenten und Richter vorgelegt werden. Sein Konzept »Das Land in einem Smartphone«, das die Digitalisierung der Wirtschaft und des staatlichen Apparats nach dem Beispiel Estlands voranbringen soll, erwähnte Selenskyj ebenfalls.

In den vergangenen Monaten konnte der Präsident noch auf den Konflikt mit dem Parlament verweisen, das so gut wie alle seine Vorschläge abgelehnt hatte. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob er sowie die jungen und unerfahrenen Abgeordneten, die nun für »Diener des Volkes« ins Parlament einziehen, ihre Vorhaben verwirklichen können. Rasumkow gilt als Favorit für das Amt des Parlamentsvorsitzenden. Die Frage ist, ob die heterogene Fraktion unter Kontrolle gehalten werden kann.

Ministerpräsident ohne politische Erfahrung

Was die Regierungsbildung angeht, will Selenskyj offenbar einen erfahrenen Ökonomen ohne einschlägige politische Vergangenheit zum Ministerpräsident ernennen. Als Kandidaten gelten derzeit zwei Führungspersonen des staatlichen Energiekonzerns Naftohas (Naftogas), dessen Leiter Andrij Kobolew und leitender Manager Jurij Witrenko, sowie Wladislaw Raschkowan, der Vertreter der Ukraine beim Internationalen Währungsfonds (IWF),  Außerdem sollen auf Wunsch Selenskyjs einige Ministerien zusammengeführt werden.

»Wir müssen offenbar über eine Koalition nicht mehr reden, weil wir ein recht gutes Ergebnis haben«, sagte Rasumkow am Montag. »Aber wir sind grundsätzlich bereit, mit allen Kräften in der Werchowna Rada zusammenzuarbeiten, die ähnliche Werte vertreten.« Dass Vertreter der Partei »Stimme« ­Ministerposten besetzen könnten, hat Rasumkow jedoch de facto ausgeschlossen, als er meinte, dass seine Partei zwei oder drei Kandidaten für jede Position habe. Grundsätzlich schließen Rasumkow und Selenskyj nur die Zusammenarbeit mit der prorussischen Partei »Oppositionsplattform – Für das Leben« aus, die mit rund 13 Prozent der Stimmen auf den zweiten Platz kam. Ein bemerkenswertes Ergebnis für die Partei des persönlichen Freundes des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Wiktor Medwedtschuk, der jedoch mit einem größerem Erfolg gerechnet hatte.

Mit rund acht Prozent der Stimmen ziehen außerdem die Parteien »Vaterland« der zweifachen ehemaligen ­Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko und »Europäische Solidarität« von Poroschenko ins Parlament ein, sie werden aber kaum eine größere Rolle spielen. Wakartschuks Partei »Stimme« bekommt voraussichtlich 20 Sitze und wird die kleinste Fraktion. Es ist aber die Partei, in die der politisch progressive und aktive Teil der ukrainischen Gesellschaft die größten Hoffnungen setzt – unter anderem, weil die Partei­listen mit NGO-Mitarbeitern, Journalisten und mittelständischen Unternehmern mit gutem Ruf besetzt waren.