Suizide in Haftanstalten

Lieber sterben als im Knast leben

Die Haftbedingungen in deutschen Gefängnissen sind katastrophal. Mehr als doppelt so viele Insassen bringen sich um wie in anderen europäischen Ländern.

Zu kleine Zellen, zu wenig Tageslicht, längere Einschlusszeiten als vorgesehen: Nicht wenige Gefangene in deutschen Gefängnissen sind unter mise­rablen Bedingungen inhaftiert. Im Juli wiesen sechs Insassen der sächsischen Justizvollzugsanstalt (JVA) Zeithain in einem Brief an die Sächsische Zeitung auf den Personalmangel in der JVA hin. Zuvor hatte sich ein Inhaftierter in der Anstalt das Leben genommen.

Einer Studie des Europarats zufolge töteten sich 2016 in deutschen Gefängnissen im Durchschnitt 11,8 Häftlinge pro 10.000 Insassen. Nur in Frankreich und Österreich lag die Suizidrate noch höher. Im Schnitt aller 46 Mitgliedstaaten des Europarats lag sie bei 5,5 Häftlingen pro 10.000. Der Rechtsanwalt Thomas Galli war von 2013 bis 2016 als Leiter der JVA Zeithain tätig. Neben dem »Gefühl der Verlassenheit«, das viele Häftlinge verspürten, und der »bürokratischen Kälte und Härte, die viele Anstalten ausstrahlen«, nennt Galli im Gespräch mit der Jungle World auch »viel zu wenig Personal« als Ursache für die hohe Suizidrate.

Manuel Matzke von der Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) steht mit Gefangenen der JVA Zeithain in Kontakt. Der Jungle World sagte er, der Personalmangel in dem Gefängnis führe dazu, dass der gesetzlich vorgeschriebene Behandlungsvollzug immer mehr durch einen Verwahrungsvollzug ersetzt werde. Ziel des Behandlungsvollzugs ist, wie es 1977 das erste bundesweite Strafvollzugsgesetz vorschreibt, nicht die Vergeltung einer Straftat, sondern die Resozialisierung des Inhaftierten. Gefangene sollen zum Beispiel gemäß eines mit einem Betreuer erarbeiteten Vollzugsplans an verschiedenen Therapieangeboten teilnehmen. In Gefängnissen wie der JVA Zeithain, wo es nicht nur an Strafvollzugsbediensteten mangelt, ist das kaum möglich. So sagte Matzke der Jungle World: »Auf über 400 Inhaftierte, darunter eine große Anzahl mit einer Drogenproblematik, kommen in Zeithain gerade einmal zwei Suchtberaterinnen und sechs Sozialarbeiter.«

Inakzeptable Haftbedingungen

Wo Strafvollzugsbedienstete fehlen, kann auch der im Strafvollzugsgesetz formulierte Angleichungsgrundsatz – das »Leben im Strafvollzug ist den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit wie möglich anzugleichen« – nicht verwirklicht werden. Bei einem Besuch der bayerischen JVA Traunstein im April 2017 stellten Vertreter der von Bund und Ländern eingesetzten Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter fest, dass die dortigen Insassen freitagnachmittags, abends sowie am Wochen­ende keinen Besuch empfangen konnten. »Aufgrund der unzureichenden Personalausstattung kann nach Auskunft der Leitung kein zusätzlicher Besuch angeboten werden. Für berufs­tätige Angehörige, Familien mit schulpflichtigen Kindern oder Angehörige, die eine weite Anreise haben, wird dadurch die Besuchsmöglichkeit sehr stark eingeschränkt«, heißt es in dem Bericht. Zudem könnten die beiden Freizeiträume, die es in der Anstalt gebe, »nicht gleichzeitig genutzt werden, da nicht ausreichend Personal zur Beaufsichtigung beider Räume zur Verfügung steht«.

Bei einem Besuch der JVA Karlsruhe im März 2017 wurden Vertreter der Stelle darauf aufmerksam, dass Inhaftierte dieser Anstalt, die über keinen Arbeitsplatz im Gefängnis verfügten, mit Ausnahme der gesetzlich vorgeschriebenen Stunde des Hofgangs den ganzen Tag eingeschlossen waren. In der vom Land Berlin in Brandenburg betriebenen JVA Heidering sind die Inhaftierten einem Bericht der Berliner Zeitung zufolge zurzeit regelmäßig länger eingeschlossen als vorgesehen, weil es an Vollzugsbediensteten mangelt.

Der Nationalen Stelle zufolge sorgen auch die baulichen Gegebenheiten und hygienische Mängel in den teils veralteten Gefängnissen für inakzepta­ble Haftbedingungen. Im Jahresbericht 2017 der Nationalen Stelle heißt es beispielsweise über die Teilanstalt II der 1898 erbauten Berliner JVA Tegel, die noch immer in Betrieb ist: »Die Hafträume in der Teilanstalt II der JVA Tegel sind sehr beengt und die Möblierung weist erhebliche Abnutzungsspuren auf. Oft ist die Toilette in den Einzelhafträumen auch optisch nicht abgetrennt. Gefangene beklagten darüber hinaus, dass gerade in der Sommerzeit in einigen Hafträumen sehr hohe Temperaturen herrschen.«

»Befall von Kakerlaken«

In der JVA Traunstein mangelt es den Häftlingen dem Bericht zufolge aufgrund zu kleiner Fenster, an denen Lochblenden angebracht sind, an Tageslicht und an frischer Luft. In der JVA Karlsruhe entdeckte die Nationale Stelle in den besonders gesicherten Hafträumen im Keller des Gebäudes einen »Befall von Kakerlaken«. Über extrem unhygienische Zustände in der JVA Bützow in Mecklenburg-Vorpommern berichtete im Mai die Ostsee-Zeitung. Dem Kreisgesundheitsamt Rostock zufolge herrschten in der 1839 erbauten Anstalt »katastrophale Missstände«. In einem Flügel hätten die Prüfer des Amts »eine erhebliche Verschlechterung des infektionstechnischen Zustandes« festgestellt.

Schlechte Haftbedingungen resultieren zudem oft aus der Überbelegung der Gefängnisse. Zu Überbelegungen kommt es, abgesehen von länderspezifischen Unterschieden, vor allem dort, wo die Zahl kurzfristiger Inhaftierungen steigt. Wie der Deutschlandfunk berichtete, waren im Januar beispielsweise alle 17 Justizvollzugsanstalten Baden-Württembergs überfüllt. Von 2016 bis 2019 stieg die Zahl der Gefangenen in dem Bundesland um 12,5 Prozent.

In einer Stellungnahme zum Bericht der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter über ihren Besuch in der JVA Karlsruhe verweist das Justizministerium Baden-Württembergs auf die »seit Herbst 2015 unvorhersehbar enorm angestiegenen Gefangenenzahlen«. Der Anteil der Ausländer unter den Untersuchungshäftlingen liegt inzwischen bei 70 Prozent. Dies liegt daran, dass Menschen ohne festen Wohnsitz in Deutschland aufgrund einer von den Behörden angenommenen höheren Fluchtgefahr häufiger in Untersuchungshaft genommen werden.

Auf Protest folgen Repressalien

Zur Überbelegung der Gefängnisse trägt auch die seit Jahren steigende Zahl von Inhaftierten bei, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Dem Magazin Legal Tribune Online zufolge sind bundesweit knapp 40 Prozent von ihnen Schwarzfahrer.

In Berlin werden jährlich etwa 300 Personen wegen dieses Straftat­bestands inhaftiert, ein Viertel davon in der JVA Plötzensee. Sebastian Brux, der Pressesprecher der Senatsverwaltung für Justiz, sagte der Jungle World, die Senatsverwaltung wolle eigentlich nicht, dass Menschen eine solche Ersatzfreiheitsstrafe absitzen müssen, da sie die Justiz belasteten. Man sei »der Meinung, dass diese Menschen Therapieangebote, Hilfe und Betreuung benötigen statt Gefängnis«. Eine geplante Bundesrats­initiative mit dem Ziel, Schwarzfahren vom Straftatbestand zur Ordnungswidrigkeit herabzustufen, kam wegen Uneinigkeit in der rot-rot-grünen Berliner Regierungskoali­tion bislang jedoch nicht zustande.

Gefangene, die sich gegen die schlechten Haftbedingungen wehren, sind Manuel Matzke zufolge häufig Repressalien ausgesetzt. »Ein Beispiel wäre der kürzlich verstorbene Olaf Lauenroth (in der JVA Neumünster, Anmerkung der Redaktion). Er setzte sich extrem für die Belange aller Gefangenen ein, was dazu führte, dass die JVA ihm dem Haftalltag zunehmend erschwerte. So wurde ihm beispielsweise ›Querulantenwahn‹ vorgeworfen, eine psychiatrische Diagnose, weswegen er weniger Kontakt zu anderen Gefangenen erhielt.«