Die Türkei geht gegen syrische Flüchtlinge vor

Im Nationalismus geeint

In der Türkei macht nicht nur die Regierung Stimmung gegen Geflüchtete. Auch die Opposition und liberale Medien beteiligen sich daran. Die Behörden schieben derweil immer mehr Menschen nach Syrien ab.

Vergesslichkeit hat bisweilen schlimme Konsequenzen. Der Syrer Amjad Mohamad Adel Tablieh wurde Ende Juli in Istanbul festgenommen, weil er seinen Personalausweis nicht bei sich trug. Seinen Angaben zufolge verweigerte ihm die Polizei, sich die Papiere von Familienmitgliedern bringen zu lassen. Stattdessen transportierten ihn die Beamten zunächst nach Gaziantep, dann in die grenznahe Provinz Hatay. Auf der Nachrichtenplattform Ahval bestätigte der türkische Restaurantbesitzer Muhammed, bei dem Tablieh gearbeitet hat, dass sowohl dieser als auch dessen Familie gültige Ausweispapiere hätten und auch das Recht, sich in Istanbul aufzuhalten.

Doch einen solchen Anspruch gibt es nicht mehr. Am 22. Juli verlautbarte der Gouverneur der Provinz Istanbul, Ali Yerlikaya von der regierenden islamisch-konservativen Partei AKP, Geflüchtete hätten einen Monat Zeit, um in die türkische Provinz zu reisen, in der sie sich bei ihrer Ankunft aus Syrien registrieren ließen, sonst drohe ihnen eine Rückführung oder gleich die Abschiebung nach Syrien. Unmittelbar danach gab es vermehrt Ausweiskontrollen, vor allem in Istanbul.

Der Fall Tablieh zeigt, dass die Behörden sich nicht an die selbstgesetzte Frist bis 20. August hielten. »Er hat ein Papier unterschrieben«, sagte Tabliehs Mutter, Vefa Mohammed Jarkes, vergangene Woche Ahval, »weil er glaubte, dass sie ihn dann freilassen.« Tatsächlich wurde ihr Sohn unmittelbar danach in die syrische Provinz Idlib abgeschoben.

Tablieh ist kein Einzelfall. Die Nachrichtenagentur Reuters sprach mit abgeschobenen Flüchtlingen in Nordsyrien. Ein ehemaliger Angestellter einer türkischen Immobilienfirma im Istanbuler Stadtteil Esenyurt, in dem viele Syrerinnen und Syrer leben, wurde während der Arbeitszeit kontrolliert und fest­genommen. Da seine türkische Registrierkarte im ostanatolischen Şanlıurfa ausgestellt worden war, fand er sich mit anderen Syrern bald in einem Bus wieder. Doch der hielt nicht in Şanlıurfa, sondern transportierte die Männer direkt an den Grenzübergang Bab al-Hawa und fuhr weiter nach Idlib in Nordsyrien. In dieser Provinz flogen die syrische und russische Luftwaffe bis vergangene Woche noch Bombenangriffe. Auch in den unter der Kontrolle des Regimes stehenden Gebieten droht Rückkehrern Gefahr. Einem Bericht des US-Nachrichtensenders NPR zufolge wurden Tausende von ihnen inhaftiert und viele gefoltert.

#Yallah­Arabistana

Die türkischen Behörden lassen die Geflüchteten vor der Abschiebung ein Dokument unterzeichnen, in dem diese sich damit einverstanden erklären, nach Syrien zurückzukehren. Da dieses Schriftstück in kompliziertem Amts­türkisch verfasst ist, verstehen die meisten Syrerinnen und Syrer nicht, was sie unterschreiben, selbst wenn sie bereits über Türkischkenntnisse verfügen.

Diese Praxis wird nicht nur vom Gouverneur der AKP unterstützt. Der neue Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), sagte einige Tage nach seinem Amtsantritt Ende Juni, die Frage der syrischen Flüchtlinge sei ein ernstes Thema. »Es gibt viele Syrer, die unregis­triert arbeiten. Wir müssen die Interessen unserer Leute schützen.« Auf Twitter gibt es seit Neuestem den Hashtag #Yallah­Arabistana (Auf nach Arabien), der von Anhängern der CHP benutzt wird, um sowohl islamisch-konservativen Türken als auch syrischen Flüchtlingen zu signalisieren, dass mindestens Letztere, am liebsten aber beide Bevölkerungsgruppen besser im Nachbarland aufgehoben wären. Ungefähr 3,6 Millionen Syrerinnen und Syrer sind in der Türkei unter vorübergehendem Schutzstatus registriert, aber einige Schätzungen gehen davon aus, dass noch eine Million Nichtregis­trierte hinzukommen.

Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu verkündete unlängst, das Flüchtlingsabkommen mit der EU sei eine Farce und ab sofort nicht mehr gültig. Funktioniert hatte es ohnehin nie. Die Türkei hat die von ihr erbrachte Integrationsleistung stark übertrieben. Nun hat eine Studie ergeben, dass die Hälfte der in der Türkei lebenden syrischen Kinder nicht zur Schule geht. Für viele ist das ein weiterer Grund, die Präsenz syrischer Geflüchteter als Problem anzusehen, statt die türkische Bildungspolitik zu kritisieren.

Jeder zweite Syrer in Istanbul sei unregistriert

Selbst bei der als liberal geltenden Medienplattform T24 finden sich entsprechende Beiträge. In vielen türkischen Städten habe sich das Stadtbild durch die syrischen Geflüchteten enorm verändert, meint der Kolumnist Mehmet Y. Yılmaz auf T24: »In Istanbul halten sich über 550.000 registrierte syrische Asylsuchende auf. (…) In Gaziantep und Şanlıurfa ist jeder fünfte Einwohner Syrer. In Hatay liegt die Rate bei einem Viertel! (…) Und Kilis! In dieser Stadt haben nur zwei von zehn Personen einen türkischen Personalausweis, acht sind ­Syrer! (…) 1.685.000 syrische Flüchtlinge sind unter 18 und haben keinen Zugang zu Bildungsmöglichkeiten! Was, würden Sie sagen, steht der Türkei in naher Zukunft bevor? Ich beantworte das mal: hoffnungslose, verzweifelte Menschen, die keine Erwartungen mehr ans Leben haben!«

Tatsächlich spricht Istanbuls Bürgermeister Imamoğlu von einer Million syrischer Flüchtlinge in der Stadt, jeder zweite halte sich unregistriert in Istanbul auf. In Gaziantep besteht die Bevölkerung mittlerweile zur Hälfte aus Syrern. Innenminister Süleyman Soylu gab Ende Juli die Zahl der in die Türkei geflüchteten Syrer mit 4,2 Millionen an.

Die Welt müsse Nachsicht mit der türkischen Regierung haben, fordert Nagehan Alçı in der regierungstreuen Tageszeitung Daily Sabah: »Die jetzige Regierung hat sehr viel Verantwortung übernommen, aber da die weit verbreitete Propaganda immer effektiver wird, fangen jetzt auch die Unterstützer der AKP an, sich über die Einwanderer zu beschweren, was die AKP-Regierung in eine schwierige Situation bringt. (…) Deshalb sollte die Welt, vor allem die EU, die schwierige Situation von Recep Tayyip Erdoğan und der türkischen Regierung verstehen. Die EU hat nie genug finanzielle Unterstützung geleistet. Die Türkei hat die versprochenen Summen nie erhalten, und sie hat versucht, die Last selbst zu schultern, aber es ist zu viel.«

Die Erwartungen an das Flüchtlingsabkommen gehen weit auseinander. Die EU hat vor zwei Jahren drei Milliarden Euro in die Türkei fließen lassen, aber nur einen Bruchteil in die türkische Staatskasse. Das Geld wurde zweckgebunden eingesetzt, um zu verhindern, dass die Regierung damit ­ihren Haushalt ausbessert. Die Kolumnistin Alçı reagierte mit ihrem Text auf eine Umfrage nach den Kommunalwahlen in Istanbul. Eine Erhebung der Istanbuler Kadir-Has-Universität ergab kürzlich, dass 68 Prozent der befragten Türkinnen und Türken mit der Anwesenheit syrischer Flüchtlinge nicht einverstanden seien und dies als zweitwichtigstes Problem nach der kriselnden Wirtschaft betrachten.

»Wir wollen zusammenleben«

Die Wirtschaftskrise in der Türkei trifft den Arbeitsmarkt hart. Die Arbeitslosenrate liegt offiziell bei 13 Prozent, und der Wertverlust der türkischen Lira sorgt dafür, dass die Bevölkerung, vor allem in Metropolen wie Istanbul, von steten Preissteigerungen betroffen ist. Auf Ahval meint Maaz Ibrahimoğlu dazu: »Die Kommunalwahlen am 31. März dienten auch als Katalysator für die antisyrische Stimmung. Die ­Regierung gibt an, mehr als 37 Milliarden US-Dollar für syrische Flüchtlinge ausgegeben zu haben. Viele Türken behaupten, Syrer hätten die Löhne unterboten, die Mieten in die Höhe getrieben, keine Steuern gezahlt und Ghettos errichtet. Das Vorgehen gegen nicht­registrierte Flüchtlinge scheint eine Antwort auf diese Wut zu sein.«

Politisch eint Regierung und Opposition der Nationalismus. Dementsprechend wird gern ausgeblendet, dass die Türkei Mitverursacher der Fluchtbe­wegungen ist. Anfang Juli zeigte die Reportagesendung »Arte Re:« einen Bericht aus einem der Lager der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), die dort ehemalige Kämpfer des »Islamischen Staats« (IS) gefangen halten. Diese zeigen Pässe, in denen mehrere reguläre Ein- und Ausreisen in die Türkei nachgewiesen sind. Das bestätigt, dass die Türkei sowohl Transitland als auch Zufluchtsort für Jihadisten ist. Die türkische Armee entfernte Mitte Juli Teile der auf Anraten der EU an der syrischen Grenze errichteten Mauer, weil sie wieder einmal gegen die angeblich von Kurden ausgehende Terrorgefahr in Nordsyrien vorgehen will. Die türkische Regierung kritisiert die USA, weil diese die YPG bewaffnet haben. Sowohl die oppositionelle CHP als auch die Regierungskoalition aus der AKP und der ultranationalistischen Nationalen Bewegungspartei (MHP) unterstützten in der Vergangenheit Operationen ­gegen die Kurden in Nordsyrien.

In Istanbul hat sich gegen diese Stimmung die Initiative »Wir wollen zusammenleben« gebildet. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen und in der Flüchtlingshilfe tätige NGOs demonstrierten am Samstag im Istanbuler Stadtteil Kadıköy gegen die antisyrische Hetze und forderten Solidarität. Syrerinnen und Syrer nahmen nicht daran teil, denn Ausländer dürfen in der Türkei generell nicht demonstrieren und werden, wenn sie es doch tun, als Provokateure abgeschoben.