Strafjustiz nach G20-Gipfel

Das war der Gipfel

Nach dem G20-Gipfel hat die Staatsanwaltschaft tausende Strafverfahren gegen linke Demonstranten eröffnet. Bei der Aufklärung von Polizeigewalt zeigt sich die Justiz weniger eifrig.

»Hamburger Gitter«, »Welcome to the New World«, »Festival der Demokratie«, »Utopia«, »Roh und gekocht«, »Der Gipfel – Performing G20« – so unterschiedlich sind die Titel und die Genres, von Dokumentation bis Experimentalfilm, zum selben Thema: Es gibt mittlerweile rund 20 Filme über den G20-Gipfel im Jahr 2017 in Hamburg, über den Protest und die Polizeigewalt. Nur einer dieser Filme lief im Fern­sehen: Der Privatsender Tele 5 strahlte im vergangenen Jahr die Dokumenta­tion »Vor dem Knall« aus.

Zum zweiten Jahrestag der Gipfelproteste liefen kürzlich vier längere Dokumentarfilme in einem Kino auf St. Pauli. Nach den Vorführungen wurde dort viel diskutiert, etwa über eigene Erinnerungen an die lange ­Woche des Protests im Juli 2017 oder über Fragen der Militanz. »Da dauerten die Gespräche danach oft noch mal so lange wie der Film selbst«, sagt Rasmus Gerlach, der Regisseur von »Der Gipfel – Performing G20«. »Der Diskussionsbedarf war und ist groß – und dann muss man die komplexen Fragen auch genau beantworten.«

Solche Diskussionen zeigen: Die Empörung über die heftige Polizeigewalt und Grundrechtsverletzungen ist weiterhin groß und wird genährt durch die Tatsache, dass keiner der dafür Verantwortlichen zurücktreten musste. Es geht aber auch um aus dem Ruder gelaufene Militanz: etwa um Brandstiftungen in Geschäften, die sich im Erd­geschoss von Wohnhäusern befanden.

Mediale Kampagne gegen Linke

Die ersten Auswertungen zu dieser Frage waren zwar schnell vorgelegt worden: Die Interventionistische Linke schätzte den zivilen Ungehorsam als erfolgreiche Strategie ein; autonome Gruppen verklärten die diffuse Eruption spontaner Militanz in der für drei Stunden polizeifreien Zone auf dem Schulterblatt regelrecht; gewaltfreie anarchistische Gruppen verurteilten solche häufig mit dem Schlagwort »Insurrektionalismus« versehenen Akte der Militanz als verantwortungslose Fetischisierung von Gewalt; die Linkspartei begrüßte den Einsatz gegen Polizeiwillkür als starkes Engagement für Bürgerrechte. Es entstand jedoch keine große Debatte: Die unterschiedlichen Einschätzungen standen unvermittelt und unverbunden nebeneinander und wurden nur vereinzelt aufgegriffen.

Die meisten beteiligten linken Gruppen hielten sich in den Monaten nach den Gipfelprotesten in der Öffentlichkeit weitgehend zurück, denn es setzten eine heftige mediale Kampagne gegen radikale Linke ein. Auch die Behörden ermittelten mit Hochdruck. Olaf Scholz (SPD), 2017 noch Erster Bürgermeister von Hamburg, hatte nach dem Gipfel »harte Urteile« gegen »Gewalttäter« gefordert. Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat bislang 3.567 Strafverfahren gegen mutmaßliche Gewalttäterinnen und -täter eröffnet, 1.228 gegen namentlich bekannte und 2.339 Verfahren gegen unbekannte Beschuldigte. Zur Anklageerhebung kam es bisher in mehr als 310 Fällen, Hamburger Gerichte haben 147 Angeklagte verurteilt.

Die höchste Haftstrafe verhängte der Amtsrichter Johann Krieten. Er verurteilte einen 36jährigen, der sechs Flaschen auf Polizisten geworfen hatte, wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren mit der Begründung: »Damit es keine weiteren Gewaltorgien gibt, müssen klare Ansagen gemacht werden.« Krieten hat auch zwei weitere harte Urteile gefällt: Er verhängte einmal zwei Jahre und sieben Monate und einmal dreieinhalb Jahre Haft gegen zwei Beschuldigte. In beiden Fällen korrigierte die Berufungsinstanz die Urteile deutlich nach unten.

Die Ermittlungsgruppe fahndet weiter 

15 Freisprüche gab es, 19 Verfahren wurden eingestellt. Anwälte von Angeklagten wiesen wiederholt darauf hin, dass in der Vergangenheit bei vergleichbaren Delikten auf Demonstrationen – etwa Flaschenwürfe gegen Polizistinnen und Polizisten – in der Regel milder geurteilt worden war.

Der Aufklärungseifer bei mutmaßlichen Rechtsverstößen von staatlicher Seite erwies sich bislang als weniger ausgeprägt: 96 von 156 Ermittlungsverfahren gegen Polizistinnen und Polizisten wurden eingestellt, in keinem Fall wurde eine Anklage erhoben.

Hartmut Dudde

Hat gut lachen: Einsatzleiter Hartmut Dudde wurde nach dem Gipfel befördert.

Bild:
picture alliance / Christian Charisius

In 43 Fällen sah die Staatsanwaltschaft keinen dringenden Tatverdacht, in 53 Fällen konnte der beschuldigte Beamte nicht ermittelt werden. In mehreren Urteilen erklärte das Hamburger Verwaltungsgericht nach Zivilprozessen zwar Festnahmen von G20-Gegnerinnen und Gegnern sowie deren Behandlung in der Gefangenensammelstelle für rechtswidrig. Diese Urteile blieben aber ohne Konsequenzen für die Hamburger Polizeiführung und den mittlerweile beförderten Gesamteinsatzleiter beim G20-Gipfel, Hartmut Dudde.

Die Sonderkommission »Schwarzer Block« beim Staatsschutz, LKA-Abteilung 7, war mit 180 Polizisten die bislang größte Ermittlungsgruppe der Hamburger Polizei, sie leitete im Dezember 2017 die größte Öffentlichkeitsfahndung in der Geschichte der Behörde ein. Im Oktober 2018 wurde sie aufgelöst. Die Ermittlungsgruppe »Schwarzer Block« fahndet jedoch mit 45 Beamten weiter.

Linke Debatte kaum weitergeführt

»Der Widerstand gegen die verheerende Politik der G20 wurde in einer Weise stigmatisiert, geächtet und kriminalisiert, wie dies seit der bleiernen Zeit des deutschen Herbstes 1977 nicht mehr geschehen ist«, sagte Theo Bruns, Mitherausgeber der im Verlag Assoziation A erschienen Protestchronik »Das war der Gipfel«, der Jungle World. »Zudem hat auch die radikale Linke die Debatte nach den Protesten kaum weitergeführt.«

Dies dürfte auch eine Frage der Kapazitäten gewesen sein. So war das Bündnis »Welcome to Hell«, das eine große autonome Demonstration mit einer international besetzten Auftaktkundgebung organisiert hatte, die von der Polizei gleich zu Beginn ohne Anlass und unter Einsatz erheblicher Gewalt gesprengt worden war, nicht in der Lage, das Geschehen auszuwerten. Das Bündnis war bereits vor dem Gipfel von Medien, der Polizei und Hamburgs rot-grünem Senat stark unter Druck gesetzt worden; hinterher fiel es für eine linke Debatte aus, für weitere politische Interventionen ohnehin.

Nicht zu unterschätzen sei zudem die »Traumatisierung, die viele von Polizeigewalt Betroffene erlebt haben«, sagt Bruns. Die Solidaritätsarbeit helfe da nur begrenzt, auch wenn sie angesichts der Repression notwendig sei. »So gehen wertvolle Erfahrungen verloren und notwendige Diskussionen werden nicht geführt.«