Donatella Di Cesare über die Regierungskrise in Italien

»Eine tiefe Krise der Demokratie«

Interview Von Federica Matteoni

Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare lebte jahrelang unter Personenschutz, weil Rechtsextreme sie mit dem Tode bedrohten. Im Interview spricht sie über die Regierungskrise in Italien, das Wesen der neuen Rechten und den Bedeutungsverlust der Intellektuellen.

Am 8. August hat Innenminister Matteo Salvini von der Lega die ­Auflösung der Regierungskoalition mit der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) angekündigt. Wie bewerten Sie die gegenwärtige politische ­Situation in Italien? Ist es eine Regierungskrise wie so viele zuvor?
Es ist sicher keine Krise wie andere in der Vergangenheit, allein schon des­wegen, weil niemand den Schritt von Matteo Salvini zu diesem Zeitpunkt ­erwartet hatte. Nicht, dass das Ende dieser Koalition unvorhersehbar gewesen wäre. Aber der Innenminister hatte vor einigen Wochen die Verschärfung seines »Sicherheitsdekrets« ohne nennenswerten Widerstand der Fünf-Sterne-­Bewegung im Senat durchgesetzt und damit erneut gezeigt, dass er den Kurs dieser Koalition bestimmen konnte. Trotzdem hat er eine Regierungskrise ausgelöst. Derzeit ist viel davon die Rede, der Schritt sei unbedacht gewesen, Salvini habe sich verzockt. Ich würde mich momentan nicht festlegen.
Alles ist noch möglich, sogar Neuwahlen. Fakt ist, dass die Lega zu Beginn der Regierungskrise Umfragen zufolge bei rund 38 Prozent der Wählerstimmen lag. Und für Salvini gilt nur eines: der Konsens seines »Volks«. Sofortige Neuwahlen, dann Ministerpräsident werden – sein Ziel schien ihm zum Greifen nah. Es ist kein Zufall, dass er die Regierungskrise nicht etwa im Rahmen der parlamentarischen Debatte angekündigt hat, sondern während einer Rede vor seinen Anhängern. Das ist ein ­Novum in der Geschichte der Republik. Insofern bedeutet diese Krise nicht nur das Ende einer Koalition, sie ist Ausdruck einer tiefen Krise der ­Demokratie in Italien. Was Salvini kurzfristig vorhat, ist klar: die Demokratie zu schwächen und einen Polizeistaat zu errichten.

Warum benutzen Sie nicht das Wort Faschismus?
Doch, ich benutze dieses Wort. Ich glaube allerdings, dass dieses Etikett zu oberflächlich sein könnte. Es scheint mir der Komplexität der Situation nicht gerecht zu werden. Es ist leicht, bestimmte Ähnlichkeiten zu erkennen und Parallelen zu ziehen. Aber es sollte allen klar sein, dass wir derzeit keine Rückkehr zum Faschismus erleben. Die Neue Rechte bezieht sich auf den ­Faschismus der Vergangenheit, schaut aber in die Zukunft. Das macht sie nicht weniger gefährlich, als es der alte Faschismus war, im Gegenteil. Der ­Begriff, den ich passender finde, ist Souveränismus.

 

In Ihrem Buch »Resident Foreigners: A Philosophy of Migration« beschreiben Sie den »Krieg des Staates gegen NGOs und Migranten« als wesentliches Merkmal des heutigen Souveränismus. Was ist neu daran?
In den vergangenen 14 Monaten, also seit Amtsantritt der Regierungskoalition aus Lega und M5S, wurde dieser Krieg gegen Migranten und NGOs zur obersten Priorität erklärt. Das hat Salvini ganz allein geschafft, der M5S hat bis vor wenigen Tagen weder seine Rhetorik noch seine Politik kritisiert. Neu ist, dass dies im Europa der Nachkriegszeit geschieht, das sich nicht zu einer neuen politischen poststaatlichen Form entwickelt hat. Stattdessen bleibt es ein Konglomerat von Nationen, die miteinander konkurrieren. Nichts hat dies in den vergangenen Jahren so ­gezeigt wie die Migrationspolitik. Gleichzeitig hat der Nationalstaat, global gesehen, als politische Form seine Bedeutung verloren. Der Souveränismus entsteht als Reaktion auf den ­Verlust der Souveränität und sagt: Dieses Land gehört mir und ich entscheide jetzt, wer das Recht hat, hier zu leben, und wer nicht.

Sie heben in dem Buch eine Kategorie hervor, die des »coabitare«, des Zusammenwohnens. Sie kritisieren allerdings die liberale Interpretation dieses Begriffs, wonach sich jeder aussuchen könne und dürfe, mit wem er oder sie »zusammenwohnt«. Was bedeutet das aus einer antirassistischen, antifaschistischen Perspektive?
Ich rede selbstverständlich nicht von der privaten Ebene des convivere, des Zusammenlebens, das zu gestalten jedem Einzelnen überlassen ist. Mir geht es um die öffentliche Dimension. In der Debatte über Migration werden diese zwei Ebenen häufig vermengt. Wie oft hat man, zumindest in Italien, die Formel gehört: »Wir können nicht alle aufnehmen!« oder »Nimm sie doch bei dir auf!«, als wäre der Staatsbürger als solcher Miteigentümer des Nationalstaats, in dem er zufällig auf die Welt gekommen ist. Staatsbürgerschaft ist aber nicht mit Besitz verknüpft. So gesehen können wir nicht frei entscheiden, mit wem wir zusammenleben, weil dies unweigerlich zur ethnischen ­Selektion führen würde. Das ist de facto das, was an den Grenzen passiert – nicht nur an den europäischen. Auf die ­Gefahr hin, dass manchen der Vergleich unzulässig ­erscheint: Man muss darauf hinweisen, dass dies in der Geschichte schon passiert ist. Die Rassegesetze im faschistischen und nationalsozialistischen Regime waren auch der Versuch, Fremde aus dem nationalen Territorium fernzuhalten. Dass dies heute, in Europa, immer wieder vergessen wird, ist sehr besorgniserregend.

 

Würden Sie den heutigen Souveränismus als spezifisch italienisches Phänomen beschreiben?
Der Souveränismus ist nicht in Italien erfunden worden. Was man aber ­besonders im vergangenen Jahr beobachten konnte, ist, dass sich dort die souveränistische Rhetorik und Politik radikalisiert haben. Das unterscheidet Italien zumindest von den Ländern, in denen die Souveränisten nicht an der Macht sind. In der politischen Debatte ist diese Radikalisierung sogar weiter fortgeschritten als in Ländern, in denen die Souveränisten regieren, etwa in ­Ungarn.
Das alles verbindet sich mit einem gesellschaftlich weit verbreiteten ­Rassismus sowie – und das ist in meinen Augen eine italienische Besonderheit – mit einer fundamentalen Opferhaltung. Die Italiener sehen sich nicht als Täter. Das bedeutet für das Narrativ über die faschistische Vergangenheit eine Art selbsterteilten Freispruch, nach der Devise: »Wir waren nicht für die Rassen­gesetze und die Deportationen verantwortlich, die Deutschen waren schuld.« Heutzutage sehen sich die Italiener erneut als Opfer, diesmal der EU, ihrer Wirtschafts- und ganz besonders Migrationspolitik. Dabei ist Italien auch hier Täter, denken wir nur an die unsäglichen Vereinbarungen zwischen der italienischen Regierung und der libyschen Küstenwache, um Fluchten per Boot über das Mittelmeer zu verhindern. Der moderne Souveränismus speist sich aus dieser Opferhaltung, der Slogan »Italiener zuerst!« ist deren deutlicher Ausdruck.

Wer trägt in Ihren Augen am meisten Verantwortung für den Aufstieg der Lega? Die Demokratische Partei (PD), die sich nach den Wahlen 2018 kategorisch weigerte, eine Koalition mit dem M5S zu bilden, oder der M5S, der sich auf eine Allianz mit Salvini eingelassen hat?
Die Verantwortung tragen beide Parteien. Der M5S ist verantwortlich dafür, den Regierungsvertrag mit der Lega unterzeichnet und damit seine linke Wählerschaft betrogen zu haben. Denn wir sollten nicht vergessen, dass ein erheblicher Teil der Stimmen für den M5S bei der Wahl 2018 von links kam. Für diese Wähler, die den M5S gewählt haben und sich dann an der ­Regierung mit Salvini wiederfanden, war das traumatisch. Wenn wir heute wählen würden, das sagen viele Umfragen, bekäme der M5S nur noch rund halb so viele Stimmen wie damals.

Was aber nicht bedeutet, dass der PD doppelt so viele Stimmen bekäme.
Richtig. In Italien ist die Lage der Linken desolat. Es gibt radikale Kräfte, die ­völlig zerstritten, desorientiert und folglich politisch irrelevant sind. Die Demokratische Partei befindet sich historisch in einer tiefen Krise: Einerseits will sie eine liberale Partei werden, andererseits überleben noch stark ­soziale Komponenten in ihr. Es ist eine Partei, die sich die soziale Frage von den Populisten wegnehmen ließ und jetzt diesem Populismus nichts zu ­entgegnen hat. Auch in der Migrationspolitik hat sich der PD die Agenda von den populistischen Rechten diktieren lassen und Parolen und eine ­Haltung toleriert, die zutiefst menschenfeindlich sind. Es ist kein Wunder, dass viele linke Wähler desorientiert sind.

 

Eine zivile Opposition existiert trotzdem. Warum kann sie dem ­nationalistischen Souveränismus nichts entgegensetzen?
Ja, die gibt es und man hat den Eindruck, dass sie immer größer wird. In den vergangenen Monaten ist sie auch auf den Straßen lauter geworden. Das Problem ist, dass sie keinerlei politische Repräsentation findet. Jetzt wäre das wichtiger denn je, denn die Souveränisten sind keine politische Randgruppe, sie stellen eine Regierung und sie bestimmen den Diskurs. Auch in den Medien hat die Opposition nur bedingt eine Stimme, im vergangenen Jahr sind zahlreiche ­Medien, besonders in Norditalien, immer unkritischer geworden, was die Lega betrifft.

Aber auch ohne politische Repräsentation kann eine gesellschaftliche Opposition wachsen. In Ihrem jüngsten Buch »Vom politischen Beruf der Philosophie« schreiben Sie, es sei an der Zeit, dass die Philosophen »in die Polis zurückkehren«. Haben sich die Intellektuellen in Italien nicht dezidiert genug gegen den souveränistischen Populismus ausgesprochen?
Die Schwierigkeit für die Intellektuellen, im öffentlichen Diskurs zu intervenieren, ist durch die neuen Medien gewachsen. Zwar haben diese potentiell eine größere Reichweite als die tradi­tionellen Medien, aber das gilt eher für unterkomplexe Gedanken und Erklärungsmuster. Hinzu kommt, dass das populistische Klima, nicht nur in Italien, von einem starken Antiintellektualismus geprägt ist, die Figur des Intellektuellen hat an Bedeutung verloren, während die Figur des kritischen Intellektuellen zum Feindbild geworden ist. Mein Buch ist der Versuch, ein altes Tabu in Frage zu stellen, und zwar dass die Philosophen sich aus der Politik heraushalten müssen. Ich finde dagegen, dass es Zeit ist, dass die Philosophie in die Polis zurückkehrt, eine Polis, die zur globalen Metropole gewachsen ist. Die Philosophen sollen endlich auf den normativen Ton verzichten. Man muss anfangen, die Demokratie nicht nur von innen, sondern auch von außen wegen ihrer Verbindung mit dem Kapitalismus zu kritisieren.


Donatella Di Cesare ist Professorin für Philosophie an der Universität La Sapienza in Rom. Sie schreibt unter anderem für die italienische Tageszeitung »Il Manifesto«, das Wochenmagazin »L'Espresso« und in Deutschland für »Die Zeit«. Sie ist Mitglied des Wissenschaftskomitees der Stiftung des Shoah-Museums in Rom. Wegen ihrer Arbeit über den Holocaust, den Antisemitismus und den Neofaschismus erhielt sie Todesdrohungen von Rechtsextremen, weshalb sie mehrere Jahre unter Personenschutz lebte. Di Cesare gehört zu den wenigen Intellektuellen, die derzeit ihre Stimme gegen die rechte Regierung erheben. Ihr jüngstes Buch, »Vom politischen Beruf der Philosophie«, soll 2020 bei »Matthes & Seitz« auf Deutsch erscheinen.