In Frankreich wurden drei Nürnberger in fragwürdigen Schnellverfahren zu Haftstrafen verurteilt

Von der Mautstation in den Knast

Im August verurteilte ein französisches Gericht drei Nürnberger in einem Schnellverfahren zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen. Dass dieses rechtsstaatlichen Maßstäben genügte, ist fraglich.

Zwischen zwei und drei Monate Gefängnis mit sofortigem Haftantritt wegen kollektiver Vorbereitung von Gewalttaten – so lautet das Urteil im Schnellverfahren. Drei Nürnberger im Alter zwischen 18 und 23 Jahren sitzen seit dem 23. August in verschiedenen französischen Gefängnissen ein. Strafrechtliche Eilverfahren unter der Bezeichnung comparution immédiate sind in Frankreich nichts Ungewöhnliches mehr. Voraussetzung für ein ­solches ist, dass kein Zweifel an der Schuld einer verdächtigen Person besteht, etwa weil diese im Besitz eines Tatwerkzeugs angetroffen wurde oder geständig ist. Diese strafrechtliche Bestimmung legte das Gericht im Fall der drei Nürnberger offenbar sehr frei aus.

Im Kofferraum wurden, so die Polizei, linksradikale Literatur, eine Sturmhaube und eine Sprühdose mit Tränengas gefunden.

Die Vorwürfe wirken grotesk und ­erklären sich hauptsächlich aus der räumlichen Nähe zum G7-Gipfel in ­Biarritz, der vom 24. bis zum 26. August stattfand, circa acht Kilometer vom ­Gerichtssitz in Bayonne entfernt und unweit der spanischen Grenze. Die Festnahme der drei Nürnberger ereignete sich bereits  in den Tagen zuvor. Die drei sollen in einer behördlichen »schwarzen Liste« potentieller »Störer« gestanden haben, die den französischen Behörden offenbar vorlag.

Mehr als 20 000 französische und spanische Polizisten riegelten während des Gipfels die Kleinstadt hermetisch ab. Allein 13 200 Beamte kamen aus Frankreich. Am zweiten Tag des Gipfeltreffens überquerten von der 32 Kilometer von Biarritz entfernten Stadt Hendaye 15 000 Demonstranten die spanische Grenze. Von einem kurzen Scharmützel mit der Polizei am Rande eines Protestcamps abgesehen verliefen die Proteste friedlich.
Ein örtliches Aktionsbündnis im französischen Baskenland hatte die ­Demonstration und einen sogenannten Gegengipfel organisiert. Das Bündnis hatte sich auf gewaltfreie Formen des zivilen Ungehorsams geeinigt. Am Sonntag des Gipfelwochenendes sagte es zuvor angekündigten Proteste in der Nähe des Gipfelorts ab, weil es Aus­einandersetzungen befürchtete. Aus der autonomen und linksradikalen Szene gab es daraufhin heftige Kritik. Von einem Scheitern der Gegenaktivitäten war die Rede.

 

Die harten Urteile gegen die drei Nürnberger sind erklärungsbedürftig. Die drei haben offensichtlich nicht an Krawallen teilgenommen; zum einen gab es während des Gipfels keine Krawalle, zum anderen waren die drei bereits in den Tagen vor dem Gipgfel und den geplanten Protesten festgenommen worden. An ihrem Wohnort sind die drei in der antifaschistischen Bewegung aktiv und waren nach Angaben ihrer Familien und Freunde auf dem Weg zum Urlaub ins spanische Baskenland. Andere Mitglieder ihrer circa zehnköpfigen Reisegruppe warteten im Badeort Lekeitio vergeblich auf ihr Eintreffen. 48 Stunden vor ihrer Verurteilung griff die Polizei die drei an einer Autobahnmautstation in der Nähe von Biarritz auf und nahm sie nach der Durchsuchung ihres Fahrzeugs fest. Im Kofferraum wurden, so die ­Polizei, linksradikale Literatur, eine Sturmhaube und eine Sprühdose mit Tränengas gefunden. Letztere wurde in ersten deutschen Presseberichten Ende August als »Gasgranate« bezeichnet, eine Falschübersetzung des im Französischen üblicherweise für Sprühdosen benutzten Wortes bombes.

Obwohl das Gericht in Bayonne die drei vom Vorwurf des Waffenbesitzes freisprach, blieben sie in Haft. Ihre Verurteilung fußt auf einer Bestimmung des französischen Strafgesetzbuchs (code pénal) für Körperverletzungs- und Gewaltdelikte, die durch ein Gesetz vom 2. März 2010 eingefügt wurde. Der Tatbestand lautet »vorsätzliche Teilnahme an einer, selbst auf vorübergehende Weise gebildeten, Gruppe, in der aus ­einer oder mehreren materiellen Tatsachen erkenn­baren Absicht der Vorbereitung vorsätzlicher Gewalthandlungen gegen Personen oder von Sachbeschädigungen oder -zerstörungen«. Darauf steht eine Höchststrafe von einem Jahr Gefägnis und 15 000 Euro Geldbuße. Der Strafrechtsparagraph wurde unter dem konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy (2007 bis 2012) eingefügt, um die Protestform des sogenannten Schwarzen Blocks zu bekämpfen.

2008 hatte der französische Staat erstmals die »anarcho-autonome Bewegung« als Feindbild identifiziert. Sogenannte autonome und Schwarze Blöcke bei Demonstrationen spielten bis dahin in Frankreich kaum eine Rolle. Doch seit im November 2008 die soge­nannte Tarnac-Affäre begann, diskutierte man im französischen Innen­ministerium neue Bedrohungsszenarien. In dem schmalen Büchlein »Der kommende Aufstand« hatte ein – offiziell unbekanntes – Autorenkollektiv eine einigermaßen skurrile Revolutionstheorie entworfen (Jungle World 47/2010). Ihr zufolge ist »das System überall«, es weise kein Oben und ­Unten auf, könne jedoch dadurch getroffen werden, dass man die allgegenwärtigen »Netzwerke« angreift. Dabei spielten die Autoren auf eine immer stärker vernetzte Infrastruktur und die wachsende Bedeutung von Informations- und Kommunikationstechnologien an. Auch das Bahnnetz wurde ­erwähnt.

 

Die Festnahmen von Mitgliedern ­einer linken Landkommune in dem Dorf Tarnac im französischen Zentralmassiv, denen Sabotage von Bahnstrecken vorgeworfen wurde, führte zu einem sich viele Jahre hinziehenden Gerichtsprozess, der im März 2018 in einem ­Fiasko für die Anklagebehörde endete (Jungle World 16/2018). Unterdessen begannen Schwarze Blöcke seit 2013, vermehrt seit 2016 das Bild von Demonstrationen in französischen Städten zu prägen, wozu eventuell auch die Tarnac-Affäre, vor allem aber auch die Krise anderer linker Strömungen beitrug.

Der durch das Gesetz vom März 2010 geschaffene Tatbestand war als eine Art Zusammenrottungsparagraph gedacht. Er sollte die Bildung von Schwarzen Blöcken im Rahmen von Protesten kriminalisieren. Auch wenn die Straf­bestimmung im Gesetz vage formuliert ist, verlangte sie immerhin das Vorliegen von »materiellen Tatsachen«, also irgendwelche konkreten Tat- oder Vorbereitungshandlungen.

Dabei dürfte maßgeblich an die Verwendung von Vermummung gedacht worden sein. Diese war damals auf Demonstrationen in Frankreich noch nicht strafbar. Sie wurde im Rahmen des sogenannten Anti-Burka-Gesetzes vom 11. Oktober 2010 zunächst zu einer Ordnungswidrigkeit. Erst ein weiteres Gesetz vom 12. März 2019 wertete die Vermummung zur Straftat auf. Die parlamentarische Mehrheit der Regierung von Präsident Emmanuel Macron hatte es gemeinsam mit der konservativen Opposition im Zusammenhang mit den Protesten der »Gelben Westen« verabschiedet. Das Gesetz bildet ein Äquivalent zum Tatbestand des Landfriedensbruchs im deutschen Recht und erlaubt unter anderem die Bestrafung von Personen, die sich nach einer entsprechenden Aufforderung durch die Polizei nicht schnell genug aus einer Menschenansammlung entfernen.

All diese für repressive Zwecke gedachten und gemachten Bestimmungen dürften im Fall der drei Nürnberger wohl nicht anwendbar sein – es sei denn, man definiert eine Gruppe von drei in einem Fahrzeug sitzenden Per­sonen als »Zusammenrottung« oder »Menschenansammlung«. Aber selbst dann fehlte jeglicher Zusammenhang zu einer konkreten Straftat oder einer diese vorbereitenden Handlung. Somit  wäre der Willkür Tür und Tor geöffnet. Überdies sollen manifeste Verstöße gegen ein rechtsstaatliches Verfahren stattgefunden haben. Es sollen etwa Polizeibeamte bei den Verteidiger­gesprächen der Festgenommen als Übersetzer tätig gewesen sein.