Die Funktion der Collage bei Ronald M. Schernikau

Fetzen von Welt

Über die Funktion der Collage in den Texten von Ronald M. Schernikau.

Pünktlich zur vorletzten Jahrhundertwende begannen einige europäische Künstler und Künstlerinnen, sich ihrer asiatischen Vorläufer vermutlich nicht bewusst, das Material ihrer Kunst nicht mehr aus Aus- und Einbildung alleine, sondern aus Gefundenem und Gebrauchtem zu schöpfen. Ein Zeitungsfetzen, eine Photographie, ein Plakat – all das konnte Material werden. Damit erschufen sie Trugbilder, die, im Verweis auf ihre Machart, nach dem französischen Wort für kleben, coller, Collage genannt werden.

Wie immer, wenn in der Kunst etwas Neues entsteht, war auch in diesem Fall Hoffnung damit verknüft, darauf,  mit der Collage das Althergebrachte loszuwerden, allem voran das Werk, dieses arrogante Ding, das außer der Hermeneutik nichts an sich heranlassen oder doch zumindest sein Verhältnis zur Welt nur vorsichtig, Zeichen für Zeichen, preisgeben will. Schmutzig dagegen ist die Collage, die sich manchmal bereits buchstäblich in der Welt gesuhlt hat, bevor sie überhaupt ganz zur Collage wurde. Gerade das Verbrauchte und mit Leben Gefüllte war es, was an der Collage faszinierte. Aus Objekten wurden Zeichen, die wie­derum zum Objekt »Werk« miteinander verschmolzen.

Zwar stand die Hermeneutik damit vor neuen Herausforderungen, doch dass letztlich weder die Kunst noch das Werk an der Collage vergingen, wie von manchen gehofft, sondern stattdessen am Schluss sich wieder weder die Welt noch das Werk, sondern der Markt als Ordnungsprinzip dessen, was Kunst sein kann und was nicht, durchsetzte, das ist dann wohl eher eine Fußnote. Schön hat sie sich eingefügt, die Collage, als Technik unter vielen anderen.

Für Ronald M. Schernikau war die Collage trotzdem eine der zentralen Techniken; mit ihrer Hilfe schrieb er ganze Bücher, und das mit bestimmter Absicht. Dem flanierenden Stil des letzten deutschen Kommunisten, der in seinem Buch »Die Tage in L.« den wohl deutlichsten Ausdruck fand, kam die Collage gerade recht. Denn wer mit seiner Kunst etwas über die Welt sagen will, der muss sie (hier zeigt sich, dass Schernikau ganz Hegelianer ist) in ihren kleinsten Momenten, bei ihren Mauern, Menschen, Schlagerstars und Bügeleisengeschäften packen, um darin das Allgemeine zu finden. Dabei ist es egal, welcher Sphäre des Alltagslebens das Material entstammt. Die Unterscheidung in Hoch- und Massenkultur macht Schernikau ganz bewusst nicht, vielmehr überwindet er sie, was ihn auch in die Nähe postmoderner Kunst rückt.

 

Nicht überwunden sind bei ihm aber der Autor und sein schöpferisches Potential. Und so sind zwar den Kapiteln der »Tage in L.« collagierte Zitatsammlungen vorangestellt, aber diese sind artig auch als Zitate ausgewiesen, streng getrennt vom selbstproduzierten Material. Zitiert werden dann aber Silly neben Thomas Mann, Losungen der SED neben Texten von Keimzeit. Einerseits ist das ein Einblick in den Menschen Schernikau und dessen Interessen, Bezugspunkte und Positionen. Aber das allein für sich genommen, verkennt die Methodik. Es darf nicht vergessen werden, mit welcher Akribie und vor allem welchem hohen Anspruch Schernikau seine Texte schrieb. Er sah in der Collage nicht die Form für Beliebiges, genauso wenig wie die Anleihen bei Popkultur und Politik, die wie sonst so häufig, einen Verzicht auf die strenge und, im besten Sinne, elitäre ästhetische Form signalisieren. Insbesondere der politischen Vereinnahmung der Form, gegen die sich Schernikau in einem Vorwort zu einer Auswahl seiner Lieblingsgedichte explizit verwehrt, steht die strenge, wenn auch zerfasernde Form seiner Texte entgegen, mal als Blankversstück, mal als Aphorismenwerk. Die Zitate ergänzen den Text nicht nur, sondern eröffnen Räume und Momente der Zeit, Zusammenhänge in der Welt, Ausschnitte jenseits der Bedeutungsebene.

Dabei ist freilich das Objekt der Collage bei Schernikau in der Regel Schernikau selbst. Eben nicht die ­Waren und Zeitungsüberschriften von der Straße sind es, die er collagiert, und nur begrenzt sind es Stars, Sternchen und Spitzenkandidatinnen. All diese sind immer schon eingefasst in sein Denken, seine Betrachtung: Realismus als Bekenntnis zur eigenen Subjektivität. Auch wenn die Welt das Material der Betrachtung bleibt, so ist sie, beim Übergang ins Werk gefasst und geformt in Sprache, Abbildung ge­worden.

Diese Sprache wird eine Abbildung der Welt, kein Behältnis, in dem die Welt verschwinden und ersetzt werden soll. Deshalb sind Schernikaus Werke gewissermaßen immer gegen die Geschichte geschrieben, da, wo sie sich überhaupt zu einer herablassen. Geschichten zu erzählen und Handlungen zu verdichten, ist ein Spiel gegen die Welt, eine schale ­Kopie, deren Gesetze genau das eliminieren, was an der Welt über sie hinausdrängt: das Banale und Alltägliche, in dem, üblicherweise unbeachtet wegen der Gewöhnung, die großen politischen Momente stecken – ein Augenaufschlag in die Richtung einer Person, die einem gefällt, ein Elternbeiratstreffen oder die Frage, wie die Brötchen in den Sozialismus kommen.

Man könnte, wie oben bereits angedeutet, Schernikau auch als einen Postmodernen bezeichnen, ohne das, wie es oft getan wird, als Beschimpfung zu meinen. Es ist allerdings dennoch anders, als es diejenigen gerne hätten, denen sich gerade 1 000 Plateaus in der Hose gehoben haben. Zwar ist da dieses Amalgam aus Hoch- und Popkultur, das immer als unfehlbares Zeichen der postmodernen Gesinnung gelten soll. Doch die Momente und Objekte der Welt in Zeichen und Bedeutungen aufzulösen, funktioniert bei Schernikau immer nur unter der Prämisse, gerade nicht die Welt in der Bedeutung aufzulösen, sondern in der Bedeutung zu stochern, im Wissen darum, dass sie die Welt verdeckt. Auf ähnliche Weise wird die Collage bei Schernikau auch Mittel zur Zerstörung des Werks, nur um im Anschluss dem Werk in aller Erhabenheit wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Zu klar war Schernikau, dass der Beitrag des Künstlers zur Welt am Ende eben doch nur das Werk ist; aber auch, dass die revolutionäre Zerschlagung des Werks beim Ausbleiben der gesellschaftlichen Revolution nur die Zerschlagung des Revolutionären in der Kunst ist und dass die Abkehr der Kunst von der Welt die Herabwür­digung des Werks zum dekorativen Beiwerk der Verelendung ist. All dies fließt da zusammen, wo Schernikau gerade in Andy Warhol den »letzten Verfechter des traditionellen Kunstbegriffs« erkannte und über diesen sagte, was sich heutzutage gut über Schernikau sagen lässt: »Was macht ein revolutionärer Künstler ohne Revolution? Na Kunst.«

Ronald M. Schernikau: legende. Verbrecher-Verlag, Berlin 2019, 1072 Seiten, 58 Euro