Regionale Ungleichheit in Deutschland

Abgehängte und Ängstliche

Wer in einer abgehängten Region Deutschlands lebt, ist ärmer und stirbt früher als der Durchschnitt. Rechte Wahlerfolge lassen sich dadurch allerdings nicht erklären.

Es gibt Regionen in Deutschland, die munter prosperieren. Die Einkommen sind hoch, Schulen und Straßen gut in Schuss, die Menschen leben meist lange und wer will, bekommt sogar ­einen Breitbandanschluss. Es sind Inseln des Wohlstands, zumindest im Vergleich zu jenen Gebieten, die von diesen Segnungen weitgehend abgekoppelt sind.

Mit der Frage, wo es sich in Deutschland gut oder eben besonders schlecht leben lässt, beschäftigt sich die kürzlich veröffentlichte Studie des Berlin-Instituts, die von der Wüstenrot-Stiftung beauftragt wurde. Der »Teilhabe­atlas Deutschland« stellt dar, wie sehr sich die Lebensbedingungen in den 401 kreis­freien Städten und Landkreisen in Deutschland voneinander unterscheiden.

In dem Atlas wird detailliert beschrieben, wie sich die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland immer mehr unterscheiden. Er ist brisant, weil er sich mit den politischen Konsequenzen beschäftigt, die diese Entwicklung mit sich bringt. So taucht immer wieder die Frage auf, ob ein direkter Zusammenhang zwischen vorherrschender politischer Einstellungen und der jeweiligen regionalen Situation besteht. Erhalten also rechtspopulistische und nationalistische Parteien vor allem in jenen Gegenden viel Zulauf, die vom Wohlstand in manchen Regionen des Landes wenig abbekommen?

Der Kontrast zwischen urbanen Wachstumszentren und der darbenden Provinz spielt bei der Erklärung rechter Bewegungen auch außerhalb Deutschlands eine große Rolle. Für den Wahlerfolg Donald Trumps wird gern der ­Gegensatz zwischen den US-Küsten­metropolen und dem maroden Rust Belt im Mittleren Westen als Erklärung herangezogen. Ähnlich verhält es sich mit dem Unterschied zwischen den Lebensbedingungen in London und jenen in den ehemaligen englischen ­Industriegebieten, der entscheidend für den Ausgang des »Brexit«-Referendums gewesen sein soll.

Deutschland weist durchaus ähnliche Diskrepanzen auf. Besonders gut sind demnach die Bedingungen in Baden-Württemberg, in Teilen Bayerns und im südlichen Hessen. Schlechte Voraussetzungen finden sich in den ostdeutschen Bundesländern, aber auch in vielen Ruhrgebietsstädten, im Saarland und in machen ländlichen Gebieten in Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Es lässt sich grob von einem Wohlstandsgefälle zwischen Süden und Norden sprechen, wobei der Main in etwa die Grenze bildet. Nördlich davon gibt es nur wenige Gemeinden wie Hamburg oder Frankfurt, die in die Kategorie »reiche Großstädte mit ihrem Speckgürtel« oder »erfolgreichen ländlichen Regionen« fallen. Diese befinden sich fast ausnahmslos im ­Süden.

 

Im wohlhabenden Starnberg in Oberbayern liegt die Lebenserwartung bei 83,4 Jahren – sechs Jahre höher als in Pirmasens, einer ehemaligen Industriestadt in Rheinland-Pfalz. In Stuttgart, München und in einem Gürtel, der von Südbaden über den Bodensee bis nach Berchtesgaden reicht, sind die Werte ähnlich gut wie in Starnberg. Ein viel kürzeres Leben haben Rentner hingegen in großen Teilen Ostdeutschlands und im Ruhrgebiet zu erwarten. Ungleichheit bedeutet nicht nur materielle Unterschiede, sondern existentielle Nachteile, »wenn sich die Frage stellt, ob der Notarzt nach dem Schlaganfall in fünf oder in 30 Minuten vor Ort ist«, wie es in der Studie heißt. Auch innerhalb derselben Region kann es ­erhebliche Unterschiede geben. In Berlin, das sich wie fast alle ostdeutschen Kommunen in der Kategorie »Großstädte mit Problemlage« wiederfindet, differiert die durchschnittliche Lebenserwartung zwischen den Stadteilen ebenfalls um mehrere Jahre.

Die Territorialisierung der sozialen Frage erklärt jedoch nur bedingt die politischen Entwicklungen. Die weitverbreitete These, wonach die AfD hohe Wahlergebnisse vor allem in abgehängten ländlichen Gebieten Ostdeutschlands erziele, wo die »jungen weltoffenen Menschen alle weggegangen seien und die ›Westparteien‹ kaum hätten Fuß fassen können«, treffe nur teilweise zu, wie beispielsweise in Mansfeld-Südharz. »Die Jugendlichen sind weg, meine Kinder auch«, sagt einer der Befragten in der Studie. »Da ist Unzufriedenheit. (…) Dann gab es hier welche, die das aufnahmen.«

Die AfD erzielte allerdings auch in westdeutschen Städten wie Ludwigshafen oder Gelsenkirchen hohe Ergebnisse, also in Kommunen, die ebenfalls unter einer hohen Arbeitslosigkeit und einer nahezu totalen Deindustrialisierung leiden. Das Erklärungsmodell versagt zudem in Städten wie im württembergischen Heilbronn, wo die Einwohner vergleichsweise gut versorgt sind. »Auch das Ergebnis für Dresden, die Aufsteiger- und Wachstumsregion im Osten, ist schwer zu erklären.« Darüber hinaus konnten die Rechtspopulisten in Sachsen mit Abstand die meisten Wähler für sich gewinnen. »Dabei ist Sachsen aber mitnichten das am stärksten ›abgehängte‹ Bundesland«, wie die Autoren der Studie feststellen.

Ein besonders deutliches Beispiel liefert der schwäbische Ostalbkreis. Die Region liegt am östlichen Rand des Stuttgarter Speckgürtels und weist in fast allen Indikatoren der Studie ausgezeichnete Ergebnisse auf. Das Einkommen ist überdurchschnittlich hoch, das Steueraufkommen ebenfalls, die Arbeits­losenrate liegt bei rund drei Prozent. Die starke Wirtschaft schafft beste Voraussetzungen auch in anderen Bereichen, wie bei der ­Gesundheitsversorgung, in der Bildung und im Verkehr. Dennoch hat die AfD bei den Bundestagswahlen dort hohe Werte erzielt. »Ich habe keine Erklärung dafür«, zitiert die Studie einen Befragten aus der Region. »Unzufriedenheit ist kommunalpolitisch nicht dingfest zu ­machen. Probleme mit Migranten in Deutschland? Nicht hier im Ort.«

 

Die AfD erreichte bei den vergangenen Bundestags- und Europawahlen in dem traditionell konservativen Landkreis doppelt so hohe Stimmenanteile wie im benachbarten Stuttgart, obwohl die sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzung vergleichbar sind. Die Vermutung liegt nahe, dass sich hier nicht die »Abgehängten« und von der Teilhabe Ausgeschlossenen artikulierten. Vielmehr existiert eine oft diffuse Sorge, den erreichten Wohlstand verlieren zu können und kulturelle Gewohnheiten aufgeben zu müssen. »Ängste sind stark subjektiv und müssen nicht mit der objektiven, messbaren Faktenlage übereinstimmen«, heißt es dazu etwas ­lapidar in der Studie.

Festhalten lässt sich allerdings, dass sich die Lebensbedingungen künftig noch stärker unterscheiden werden. Die erfolgreichen Regionen und Kommunen ziehen Menschen und Unternehmen an, während die abgehängten Gegenden weiter an Attraktivität verlieren dürften. »Die Politik wird den demographischen Wandel und den Bevölkerungsschwund in peripheren Regionen kaum aufhalten oder gar umkehren können. Die Erfahrung im Umgang mit dem Strukturwandel zeigt, dass sich dieser auch mit viel Geld nicht stoppen lässt«, kommentieren die Autoren nüchtern.

An der Ungleichheit der Lebensverhältnisse wird deshalb wohl auch das eigens dafür geschaffene Heimat­ressort im Innenministerium nichts ändern können. Da sich die materiellen Bedingungen wenig verändern lassen, wird der Begriff der Heimat seit geraumer Zeit aufgewertet. Die Identifikation mit den örtlichen Gebräuchen und Sitten, den Sprachgewohnheiten und ­kulinarischen Besonderheiten, und sei es auch nur die Vielzahl der lokalen Biersorten, helfen schließlich dabei, über manche Defizite hinwegzusehen. Für die Konjunktur des Heimatbegriffs bietet die Studie zumindest indirekt eine Erklärung. Heimat liefert für jene, die nicht in der Lage oder willens sind, ihre abgehängte Region zu verlassen, eine Ausrede. Und ebenso für die ­Bewohner der Wohlstandsinseln, die um ihre materiellen Privilegien ­fürchten, aber vorgeben, ihre kulturelle Eigenheiten zu verteidigen.