Sammelband »Kein schöner Land«

Butler und Brando im Bootcamp

Die Autorinnen und Autoren von »Kein schöner Land« wollen die deutsche Gegenwart angreifen. Der scharfe Tonfall des Sammelbandes erinnert an Polemiken von Pohrt, Biller und Droste. Aber der Unterschied zwischen Kulturkritik und Standortberatung verschwimmt.

Was ist deutsch? Es gibt etliche Klischees, mit denen darauf geantwortet wird. Und kaum eines ist völlig abwegig: Handtücher auf Liegestühlen. Besockte Füße in Sandalen. In gleichfarbige Funktionsjacken gehüllte Pärchen, die jedem Wetter trotzen. Mülltrennung und Dosenpfand. Brot aus echtem Schrot und Korn. Sättigungsbeilage. Soße über alles, über alles in der Welt. Liebe dein Auto mehr als deinen Nächsten. Wer bremst, verliert! Schwarz, rot, geil. Die Mannschaft. Auf Partys klemmige Eckensteherei in Gruppen. Musik ohne Erotik, dafür aber mit abgedroschener Heimatduselei. Filme ohne Handlung, ohne Spannung, ohne Konflikt, aber mit viel, viel Kunst. Nack­tes Geschrei im Theater. Unerquickliche Mittelklassenjammerei in der Literatur. Vergötzung des Schlechtgemachten in der Kunst. Zum Lachen in den Bunker. Zum Flirten auch. Überhaupt: Partykeller. Ausrasten nur bei Pogrom und Weltkrieg, aber niemals beim Anblick geliebter Menschen. Nach oben buckeln, nach unten treten. Durchhalten und dabei anständig bleiben, auch beim Massenmord. Schlachteplatte mit Kraut.

Das Problem mit Deutschland ist nicht das Erscheinungsbild, solange die Geschäftsgrundlage unverändert bleibt.

Die Triftigkeit solcher Klischees dürfte darin liegen, dass es hierzulande ein lang gepflegter schlechter Brauch ist, die mangelnde Entwicklung zivilisatorischer Formen im zwischenmenschlichen Umgang mit einem Verweis auf die höheren inneren Werte oder eine noble Natürlichkeit zu kompensieren, der aber nur die Ressentiments gegen andere zu verbergen hilft. Dass sich der moderne Warentausch hierzulande nicht als einer zwischen sich zumindest frei Nennenden, sondern als Feudalkapitalismus etablierte, hat zur deutschen Misere nicht unerheblich beigetragen. Es entstand keine politisch selbstbewusste bürgerliche Klasse, um den Adel niederzuringen und das Gewissen an die Stelle des Untertanengeistes zu setzen. So herrscht weiterhin die sich als Sklavenmoral aufführende Herrenmoral. Ökonomische und politische Interessen werden zwar knallhart verfolgt, zugleich jedoch hinter einer Fassade von eherner Kultur, ewigen Werten und edler Innerlichkeit verborgen. »Das innere Licht ist die trübste Beleuchtungsart«, schrieb Georg Lukács 1945 über das Nebeneinander von Moral und ­Verbrechen bei den Deutschen.

Eine Kritik an dieser historisch gewachsenen politischen Konstellation konnte man – auch in der Folge von Theodor W. Adornos Vortrag »Auf die Frage: Was ist deutsch« – in den vergangenen Jahrzehnten getrost als links begreifen. Der jüngst verstorbene Wolfgang Pohrt gehörte zu den großartigen Polemikern gegen die schlechten Eigenheiten der Deutschen, auch Wiglaf Droste (ebenfalls jüngst verstorben). Maxim Biller wäre noch zu nennen. Immer wieder nahmen diese drei sich auch die kleinen Hässlichkeiten zum Gegenstand, die »Körnerfresser und Knoblauchesser« (Pohrt), das »Land der Verklemmten« (Biller) oder ein Einwurf »wider die Adilette« (Droste). In der Folge waren es die Antideutschen, die an dem Habitus der deutschen Linken vom erbaulichen Gitarrengezupfe am Lagerfeuer bis zu den berüchtigten Wursthaaren einiges zu bemängeln wussten. Das betraf auch Erscheinungen des Alltags wie Liebesschlösser an Brücken oder die mit Floskeln durchzogene Sprache der kurzen Begegnung. Eine solche Kritik, die ihren Gegenstand vor allem im Habituellen findet, denunziert die falsche Identifikation des Einzelnen mit der Gesellschaft. Zugleich tendiert sie aber in ihrer Verselbständigung und Ablösung von der Gesellschaftskritik zum Lebensratgeberischen, so dass Distinktion an die Stelle von Erkenntnis tritt.

 

Derzeit diskutieren jüngere Publizisten, nach gefühlt zwanzig Debatten über germanische Leitkultur, erneut über die deutschen Zustände. Nach »Eure Heimat ist unser Albtraum« ist der Sammelband »Kein schöner Land« erschienen. Alptraum dort, kein schöner Land hier – eine bewusste Gegenthese? Der Untertitel verspricht einen »Angriff der Acht auf die deutsche Gegenwart«. Den Titel schmückt der deutscheste aller Berge, der Watzmann, in der Darstellung von Caspar David Friedrich. Das stinkt geradezu nach einer schalen Wiederaufbereitung der deutschen Romantik. Oder ist es nur ironisch gemeint? Acht Autorinnen und Autoren von Anfang bis Mitte 30 sind es, die sich unterschiedliche Themen vornehmen. Leander Steinkopf schreibt über Essen, Quynh Tran über Mode, Simon Strauß über Theater, Katharina Hermann über Literatur, Lukas Haffert über Politik, Annekathrin Kohout über Kunst, Daniel Gerhardt über Popmusik und Noemi Schneider über Film und Fernsehen. Ökonomie bleibt ausgespart, es soll die Kulturnation Deutschland auf den Prüfstand gestellt werden.

Was an der deutschen Gegenwart besonders verachtenswert sein soll? Beim Essen und Trinken sind es Billigschaumwein, Vollautomatenkaffee und Couscous-Salat; Mettigel und Jägerschnitzel sind hingegen toll. In solch willkürlicher Wertung geht die durchaus treffende Beobachtung, dass es in Deutschland statt Kochkunst nur Ernährungswissenschaft gibt, nahezu unter. Und das Jägerschnitzel? »Ein Ideal für die Deutschen und die Rolle Deutschlands in der Welt: Man isst still sein Jägerschnitzel, ist glücklich mit sich und lässt die anderen in Ruhe.« Verhungern oder ertrinken zum Beispiel. Auf ein solches Schnitzel, an dem Volk und Welt genesen soll, verzichtet man wohl besser. Man muss ja nicht gleich zum Couscous-Salat greifen.

In der Mode wird die deutsche Verachtung der schönen Verhüllung und die Vorliebe fürs Praktische angeführt, nur um dann aber die Klage anzustimmen, dass die hiesige Textilindustrie im Weltmaßstab wirtschaftlich hinterherhinke und dies trotz des großen Potentials zur Volkseinkleidung. Doch es gibt noch Hoffnung. »Die jüngsten Entwicklungen, auch durch Globalisierung und Migration geprägt, bewirken vielleicht endlich mal eine positive (ästhetische) Aufrüttlung, die Deutschland hilft, aus dem selbstgewählten Versteck herauszukommen, einen roten Faden zu finden und selbst am Stoff der deutschen Gesellschaft mit all ihren alten und neuen Facetten zu weben.« Mode, um Deutschland aus dem selbstgewählten Versteck zu helfen? Man beginnt fast, den modischen Sonderweg Berlins liebzugewinnen.

 

Die Beiträge liegen mit ihrer Kritik nie gänzlich daneben, doch erscheint deren Zweck verdächtig. Im Theater soll nicht nur Judith Butler, sondern auch Marlon Brando vorkommen, als Einspruch gegen undefinierte Männerrollen. In der Kunst soll der Kultus der Echtheit durch Hässlichkeit beendet werden. In der Literatur Autonomie nach Adorno mit Verfremdung nach Brecht kombiniert werden. In der Politik soll die Verabschiedung der alten Bundesrepublik und der sogenannten Volksparteien zu einem institutionellen Wandel führen, der der progressiven Nostalgie eine Ende bereitet. Im Pop sollen ebenfalls Erotik und Spiel vorkommen, statt nur Heimat und Sommermärchen. Im Film soll auch Komödie stattfinden und nicht nur krankhafter Zwang zur Eindeutigkeit ­(wobei Maren Ades Erfolgsfilm »Toni Erdmann« erstaunlicherweise mit keinem Wort erwähnt wird). Die Beiträge sind recht unterschiedlich. Und nicht jeder will offensichtlich auf Jägerschnitzel, national-ästhetische Aufrüttlung und das Ende der Versteckspiele hinaus.

Worauf man sich in einem im ­Anhang abgedruckten Diskussionsmitschnitt einigen kann, ist das Ende der Ironie und das Plädoyer für eine neue Ernsthaftigkeit. Wohin das führen soll? Unklar. Es klingt wie die diffuse Suche nach einem ebenso diffusen Eigenen. Der Angriff auf die deutsche Gegenwart in »Kein schöner Land« erinnert zwar im Ton an die einst vorgetragene linke Kritik an teutonischen Hässlichkeiten, doch scheint sich die Funktion dieser im Habituellen verhafteten Kritik geändert zu haben – was zu denken geben sollte, zumal der Angriff ausgesprochen harmlos ausfällt. Das soll er wahrscheinlich auch, insoweit er eher als Aufruf zur Erneuerung einer Kulturnation fürs 21. Jahrhundert gedacht ist, die für die politischen und ökonomischen Ansprüche der herrschenden Klasse weitaus besser geeignet scheint als der Muff der alten Bundesrepublik. So klingt auch die Ankündigung des Verlags nach kultureller Generalmobilmachung, der Sammelband sei ein »Bootcamp gegen die geistige Trägheit – und ein Ausbruch aus der deutschen Bequemlichkeit«. Marx und Engels schrieben in der »Deutschen Ideologie«, die miserable Rolle der Deutschen in der wirklichen Geschichte werde dadurch verdeckt, dass sie die Illusionen auf gleiche Stufe mit der Wirklichkeit stellten. Scheinangriffe auf die deutsche Gegenwartskultur können offenbar selbigem Zweck dienen. Das Problem mit Deutschland ist nicht das Erscheinungsbild, solange die Geschäftsgrundlage unverändert bleibt.

Leander Steinkopf, Quynh Tran, Simon Strauß, Katharina Herrrmann, Lukas Haffert, Annekathrin Kohout, Daniel Gerhardt, Noemi Schneider: Kein schöner Land. Angriff der Acht auf die deutsche ­Gegenwart. C. H. Beck, München 2019, 255 Seiten, 18 Euro