Paul Simon hat sich an den Tatorten des Anschlags von Halle umgesehen

Geplanter Massenmord

Nach dem Anschlag auf eine Synagoge und den beiden Morden in unmittelbarer Nähe herrschen in Halle Trauer und Entsetzen. Politiker bekunden ihre Anteilnahme und zeigen sich überrascht.

In den vergangenen Jahren hatte das Bündnis »Halle gegen rechts« zahl­reiche Demonstrationen organisiert, doch diese war anders. Schweigend ­zogen am Sonntag 2.000 Menschen durch die Straßen von Halle und protestierten gegen Antisemitismus und Rassismus. 

Viele Betroffenheitsbekundungen richten sich unpolitisch gegen Hass im Allgemeinen.

Ein rechtsextremer Attentäter hatte Kevin S. und Jana L. am Mittwoch vergangener Woche ermordet. Er erschoß Jana L. auf der Straße vor der Synagoge, in die er vergeblich einzudringen versucht hatte. Den 20jährigen Bauarbeiter Kevin S. tötete er nur wenige Hundert Meter entfernt in einem Imbisslokal, dem »Kiez-Döner«. Der festgenommene Täter hat gestanden und ein rechts­extremes beziehungsweise antisemitisches Motiv eingeräumt.

Das Motto der Demonstration am Sonntag, »Solidarität«, galt den Opfern des Rechtsterroristen und ihren Angehörigen sowie allen von Rassismus und Antisemitismus Betroffenen, besonders aber der jüdischen Gemeinde Halles. Nur eine stabile Tür hatte diese vor dem Täter geschützt, der angetrieben war von mörderischem Antisemitismus und Rassismus. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Muslime, Kommunisten, linke »Verräter«, Schwarze und Christen zu ermorden. Aber in ­Juden sah er die Wurzel allen Übels, deshalb wollte er in der ­Synagoge einen Massenmord begehen.

Schon am Freitagabend hatten sich fast 2 000 Menschen mit Kerzen vor der Synagoge versammelt, in der die Gemeinde den Schabbat begangen hatte. »Es war ein schöner Abend. Die Synagoge war sehr voll, auch voller junger Gemeindemitglieder«, sagt das Gemeindemitglied Igor Matviyets der Jungle World. Wie die überwiegende Mehrheit der Juden in Halle kam der 28jährige in den neunziger Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Die Feiern und Gottesdienste finden zumeist auf Russisch und auf Deutsch statt. Die Gemeindemitglieder sind überwiegend Senioren und leben in Halle eher zurückgezogen.

 

»Dass am Freitag so viele in der Synagoge erschienen, sollte auch ein Zeichen setzen. Aber es wird nicht immer der Innenminister mit seinen Sicherheitsleuten da sein, es werden nicht immer 2 000 Menschen schützend vor der Synagoge stehen. Irgendwann ist die kleine Gemeinde wieder allein in dem Gebäude, in dem sie von dem Nazi angegriffen wurde«, sagt Matviyets. »Ich frage mich, ob viele der älteren Menschen sich dann noch trauen werden zu kommen.«

Über die Sicherheit der jüdischen Gemeinde ist in den vergangenen ­Tagen eine erbitterte Diskussion entbrannt. Der Innenminister von Sachsen-Anhalt, Holger Stahlknecht (CDU), besuchte die Gemeinde und versprach umfassenden Schutz für jüdische Einrichtungen in Sachsen-Anhalt. Dass dieser Schutz bisher nicht garantiert worden sei, habe an der fehlenden ­Gefahreneinschätzung gelegen. Heftige Kritik daran formulierte Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. »Die Aussage des Innenministers, wonach die Polizei den Bitten der Jüdischen Gemeinde um Schutz stets nachgekommen sei, ist unzutreffend und verkehrt die Realität«, sagte Schuster am Wochenende in Berlin. 

Sicherheit sei schon seit Jahren ein Thema für die Gemeinde in Halle, sagt Matviyets: »Besonders kritisch ist es seit 2015« Damals hätten die sogenannten Montagsmahnwachen begonnen, »die Innenstadt mit ihren verschwörungstheoretischen und antisemitischen Versammlungen in Beschlag« zu nehmen. Auch Reichsbürger und die Neonazigruppe Brigade Halle hätten an diesen Demonstrationen teilgenommen. Damals hätte die jüdische Gemeinde ihre Mitglieder ausdrücklich davor gewarnt, sich an Tagen, an denen diese Veranstaltungen stattfanden, in der Innenstadt aufzuhalten.

Jetzt permanenten Polizeischutz aufzustellen, bezeichnet Matviyets als »Symbolpolitik«. Man hätte schließlich früher schon eine vernünftige Lösung finden können, bevor es nun zum Schlimmsten gekommen sei. Es gehe auch nicht allein um die jüdische ­Gemeinde. »Die muslimische Gemeinde in Halle ist seit 2015 gewachsen, hat aber immer noch sehr kleine Räumlichkeiten«, sagt Matviyets. »Beim Zuckerfest beten 500 bis 700 Menschen auf offener Wiese. Zweimal wurden sie schon mit Luftgewehren beschossen.«

 

Auch Bundespolitiker reagierten auf den Anschlag. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sprach davon, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken, denn die Bedrohung durch den Rechtsterrorismus steige, auch die Bewaffnung nehme zu. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier reiste nach Halle. Als er die jüdische Gemeinde besuchte, legte er auch Blumen vor dem »Kiez-Döner« ab. Die Mitarbeiter des Lokals ignorierte er. »Der Bundespräsident hätte ihnen ein oder zwei Sätze sagen können«, schrieb der Inhaber des ­Lokals, Izzet Cagac, später auf Facebook.

Auch der Hallenser Bürgermeister Bernd Wiegand (parteilos) und der sachsen-anhaltinische Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) verurteilten Rechtsextremismus und Antisemitismus. Landesinnenminister Stahlknecht bezeichnete die AfD-Politiker als »geistige Brandstifter«. 

Manche bezweifeln, dass sich etwas ändern werde. »Viele Menschen ­wollten in den letzten Tagen ihre Anteilnahme ausdrücken, manche sagten auch, man müsse jetzt entschlossener gegen die AfD vorgehen«, erzählt ­Valentin ­Hacken vom Bündnis »Halle gegen rechts«. »Aber ich bin nicht so optimistisch, dass sich die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus dauerhaft verändern wird.«

Viele in Halle äußern sich schockiert. Doch einigen missfällt die politische Debatte um den Angriff. »Der Typ war irre. Geisteskrank. Ich finde es schwierig, dass das jetzt so gegen die AfD instrumentalisiert wird. Undemokratisch finde ich das«, sagt der Jungle World ein junger Hallenser, der unweit der Tatorte wohnt. Zahlreiche Betroffenheitsbekundungen richten sich un­politisch gegen Hass im Allgemeinen.

»Viele Leute standen am Schabbat mit Kerzen vor der Synagoge«, berichtet Hacken. Aber noch mehr hätten vor dem Anschlag noch nicht einmal gewusst, dass es überhaupt eine jüdische Gemeinde in ­Halle gibt. »Auch die ­Politik«, sagt er, »stellt sich jetzt vor den Kameras an die Seite von Menschen, die sie sonst wenig interessiert haben.«

 

Die Zahl der rassistischen und antisemitischen Straftaten in Sachsen-­Anhalt stieg 2018 insgesamt um etwa sechs Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die mangelnde Selbstkritik der Landesregierung wegen ihrer falschen Gefahreneinschätzung werfe die Frage auf, »ob die Bereitschaft besteht, aus vergangenen Fehlern Lehren zu ziehen«, so Zentralratspräsident Schuster.

Matviyets stört, wie nach dem Terroranschlag alle, vom Ministerpräsidenten bis zum Bürgermeister, betont hätten, dass das ­Attentat nicht Halle, oder Sachsen-Anhalt zugeschrieben werden könne, weil diese weltoffen und vielfältig seien. Das stimme so eben nicht, meint Matviyets. ­Antisemitismus und Rassismus begegne man inmitten der Gesellschaft, auch in Halle.

Wie nach dem Terroranschlag mit organisierten Rechtsextremen in der Region umgegangen werden soll, ist strittig. Niemand verhinderte, dass die AfD am offiziellen Gedenken am Freitag mit dem Bundespräsidenten teilnahm. Das Zentrum und Wohnprojekt der »Identitären Bewegung« in der Adam-Kuckhoff-Straße liegt nur wenige hundert Meter von den Tatorten entfernt. Hier treffen sich rechtsextreme Ideologen, junge Neonazis, Burschenschaftler und AfD-Politiker (siehe Seite 18). Der Hallenser Neonazi Sven Liebich vermeldete noch am Tag der Morde auf Youtube: »Leute, ich lebe noch, habe keine Verfolgungsfahrt hinter mir und wollte einfach nur sagen, dass ich nichts mit dem Anschlag auf die Synagoge und den Dönerladen zu tun habe.« Liebich, der früher zum neonazistischen Netzwerk Blood & Honour ­gehörte, lacht dabei in die Kamera. Am Freitag störte er eine Gedenkveranstaltung auf dem Marktplatz mit einer rechtsextremen Kundgebung.

 

Auf der Website der im 40 Kilometer von Halle entfernt liegenden Schnellroda herausgegebenen neurechten Zeitschrift Sezession zog ein Autor Parallelen zum »hemmungslos aufgebauschten ›Mordfall Lübcke‹«. Er behauptete, es könne sich beim Anschlag von Halle um eine vom Staat inszenierte »›False Flag‹- oder eine ›Deep State‹-Aktion handeln« wie schon damals beim »NSU-Phantom«.

Der Pressesprecher der sächsischen AfD, Andreas Harlaß, schrieb auf Facebook: »Nur zur Erinnerung: Der Psycho von Halle hat Deutsche erschossen, keine Semiten.« Im Sinne der Nürnberger Rassegesetze von 1935 drückte er damit aus, dass Juden und Migranten niemals als »Deutsche« gelten könnten. 

Am Sonntag lief zwischen Israel-­Fahnen schwingenden Antifaschisten und Studierenden, hinter einem Banner »gegen jeden Antisemitismus«, auch eine Gruppe aus der Fankurve des nicht unbedingt als links geltenden Halleschen Fußballclubs (HFC), um ihres ermordeten Freundes Kevin S. zu ­gedenken. Eine weitere Gruppe trug Fahnen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG). Neben Redebeiträgen der Kurdischen Gemeinde Deutschlands und einer Grußbotschaft des Bündnisses »Unteilbar« aus Berlin wurden die HFC-Hymne und ein Schlager von Andrea Berg gespielt, da die ermordete Jana L. Fan der Sängerin war. Die HFC-Fans ehrten ihren toten Freund mit Sprechchören. Nach der Demonstration fuhr mit lauten Sirenen die Polizei vor, denn jemand hatte die trauernden HFC-Ultras für Nazis gehalten und einen Notruf abgesetzt.
»Halle ist ein Teil meines Lebens. Ich lebe seit elf Jahren hier, ich fühle mich wie in der Heimat«, sagte der kurdische Inhaber des »Kiez-Döner« auf der Demonstration, die er mit­organisiert hatte. »Und durch euren Beistand werde ich mich genauso ­wieder fühlen. Danke, dass ihr alle für uns da seid.« Dann schloß er die Fußballfans, deren junger Freund in seinem Lokal erschossen worden war, tröstend in die Arme.