Der »Islamische Staat« in Syrien

»Der IS lebt noch«

Interview Von Carl Melchers

Tobias Buckler, Notfallsanitäter, über das syrische Flüchtlingslager al-Hul und die Gefahr einer Rückkehr des Islamischen Staats.

Sie waren häufig als Notfallsanitäter in Syrien und haben auch in einem Flüchtlingslager gearbeitet, in dem viele gefangene IS-Kämpfer waren. Wie gefährlich ist der IS noch?
Gerade im Süden von Nordostsyrien, wie in Deir ez-Zor, wo die Ölquellen sind, lebt der IS noch. Dort ist er militärisch zurzeit nicht aktiv, aber er hat die Macht über den Alltag. Es heißt, er treibe auch schon wieder Steuern ein. Es gibt in der Gegend regelmäßig Anschläge des IS auf die kurdisch geprägten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Ich war häufiger im kurdischen Teil des Irak. Man hört eigentlich immer wieder die Einschätzung, dass es eine Frage der Zeit sei, bis der IS auch wieder militärisch aktiv werde. Er kontrolliert zwar kaum noch Territorien, aber er wurde nie vernichtend geschlagen. Die Ideologie lebt ohnehin weiter. Personell ist der IS ausgedünnt, aber auch nicht wirklich am Boden. Ich denke, wenn die Türkei weiter vordringt, dann wird der IS demnächst auch wieder ­offen auftreten. Das hat man schon in Raqqa gesehen. Als die Türkei angegriffen hat, gab es sofort Bombenanschläge des IS. Auch in Qamishli gab es einen großen Anschlag, zu dem sich der IS bekannt hat.

Wo liegt al-Hul, das Flüchtlingslager, in dem sich die gefangenen IS-Kämpfer befinden?
Es ist ein Flüchtlingslager in jenem Gebiet im Nordosten Syriens, den die kurdische Selbstverwaltung Rojava nennt. Das Lager gibt es schon seit dem Irak-Krieg von 2003. Es liegt bei der Stadt al-Hul im Distrikt Hasakeh, etwa zweieinhalb Autostunden von Qamishli entfernt, also ziemlich im Zentrum Rojavas.

Wie muss man sich dieses Flüchtlingslager vorstellen?
Weil es das Lager schon recht lange gibt, hat es einen Kern, der aus gemauerten Häusern besteht, ein wenig wie in einer richtigen Stadt. Während der Kämpfe zwischen den SDF und dem IS ist es enorm gewachsen. Es leben dort ungefähr 65 000 bis 70 000 Menschen. Mit Ausnahme des gemauerten Kerns handelt es sich um eine Zeltstadt, die in verschiedene Bereiche aufgeteilt ist, die »Phasen« genannt werden. Es gibt, glaube ich, mittlerweile acht Phasen. Eine davon, die Annex heißt, ist zusätzlich gesichert. Das ist der Teil, in dem die internationalen IS-Familien wohnen. Das Annex ist eigentlich ein Gefangenenlager.

Ist das restliche Lager auch bewacht?
Es ist abgesperrt, man kann nicht raus oder rein ohne Erlaubnis. Die Menschen dort sind eine bunte Mischung von Binnenflüchtlingen aus allen Ecken Syriens, unter anderem auch syrische IS-Familien, aber auch ganz viele Familien, die vor dem IS geflohen sind. Dazu kommen noch Flüchtlinge aus dem Irak, die vor den Kämpfen aus Mossul geflohen sind.

 

Sind diejenigen, die vor dem IS geflohen sind, von den geflohenen ­IS-Kämpfern getrennt?
Nur die ausländischen IS-Kämpfer sind vom Rest getrennt. Da sind auch viele Deutsche dabei und sehr viele Russen. Insgesamt sind etwa 10 000 Menschen im Annex. Im restlichen Lager sind vor allem die Familien syrischer IS-Kämpfer. Viele von denen sagen aber einfach nicht offen, sie seien vom IS. Deshalb ist die Zahl der IS-Leute schwer zu schätzen. Mir sagte man, es seien zwischen 20 000 bis 30 000 IS-Sympathisanten im gesamten Lager.

Welchen Eindruck hat das Camp auf Sie gemacht, als Sie im Rahmen Ihrer Arbeit dort waren?
Al-Hul ist das allerbeste Beispiel für ein Flüchtlingslager, bei dem man von Anfang an sehen konnte: Das endet nicht gut. Zum Beispiel gibt es dort eine Camp-Polizei, die personell viel zu schwach ist. Sie kontrolliert lediglich die Ausgänge und macht Patrouillen entlang der Hauptwege. Im täglichen Leben sind die Menschen im Camp weitgehend sich selbst überlassen. Sie organisieren sich selbst in ihren Zeltgemeinschaften. Was aber in al-Hul als Erstes auffällt: Es gibt wirklich keine einzige Frau, die nicht vollverschleiert ist. Alle tragen Niqab oder sogar Burka, sogar Kinder schätzungsweise ab dem Alter von sechs, sieben Jahren. Das ist ein krasser Kontrast zum restlichen Nordostsyrien, wo man zwar auch mal Vollverschleierte sieht, aber das ist eine Minderheit. Im Camp sind alle Frauen durchweg verschleiert. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass viele Frauen, die vor dem IS geflohen sind, wahrscheinlich vorher noch nicht vollverschleiert waren.

Das heißt, es herrscht eine Art IS-Regime innerhalb des Camps?
Ja, auf jeden Fall. Die IS-Mitglieder können so viel sozialen Druck aufbauen, dass die Leute sich nach ihren Regeln richten. Auch laufen kleine Kinder herum, die nicht zur Schule gehen, weil die IS-Leute es verbieten. Und wenn man sich mit ihnen unterhält und fragt: »Habt ihr denn Brettspiele oder so etwas?«, dann heißt es: »Nein, dürfen wir nicht.« Das sei haram.

Wie effektiv ist die Trennung der 10 000 internationalen IS-Kämpfer vom Rest?
Sie werden schon getrennt, sie dürfen nur raus in Begleitung der Camp-Po­lizei, wenn sie zum Beispiel zum Arzt müssen. Im Camp selbst gibt es Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen.

Mit welchem Ziel wurden die in­ternationalen IS-Kämpfer dort interniert?
Mir wurde immer wieder gesagt, man hoffe darauf, dass irgendwann ein internationales Tribunal dazu eingerichtet werde und die Gefangenen abgeholt würden. So wie es aussieht, wird das wohl nicht passieren. Die Kurden wissen nicht, was sie mit ihnen machen sollen. Keiner will sie haben, rauslassen kann man sie auch nicht. Für die kurdische Selbstverwaltung ist das sehr ungünstig, selbstverständlich auch für Menschen im Camp, also die IS-Leute und vor allem deren Kinder, die auch keine Perspektive haben. Sie sitzen da und wissen, sie kommen da wahrscheinlich so schnell nicht mehr raus. Es sei denn, sie werden befreit oder fliehen.

 

Wie weit ist al-Hul von dem Gebiet entfernt, in das die türkischen Truppen und ihre Verbündeten eingedrungen sind?
Das Lager ist vier Stunden entfernt von der Grenze. Bevor dieser Konflikt mit der Türkei wieder ausgebrochen ist, gab es dort zum einen die Camp-Polizei, die das Camp bewacht hat. Ganz in der Nähe des Camps gab es außerdem noch zwei oder drei Stützpunkte der YPG, also Militär. Das Militär haben die Kurden abgezogen und zur Grenze verlegt. Zurzeit sind dort nur noch die etwa 300 Polizisten im Einsatz, die in einem Schichtsystem arbeiten. Es halten also nie mehr als 80 Polizisten auf einmal Wache.

Mit so wenig Personal könnte man doch niemals einen Massenausbruch von 10 000 bis 20 000 Menschen aufhalten.
Die Camp-Polizisten würden einem wahrscheinlich etwas anderes sagen, aber faktisch hätten sie schlechte Karten. In den vergangenen Wochen gab es im Annex bereits einen Aufstand, nachdem dort eine Leiche gefunden worden war. IS-Leute bringen sich auch immer wieder gegenseitig um, meistens wegen Glaubensstreitig­keiten. Die getötete Person wurde mutmaßlich von einem IS-Geheimgericht abgeurteilt. Die Polizei hat dann eine Razzia gemacht, das löste einen Krawall im Annex und auch im restlichen Lager aus. Wenn der Konflik zwischen den YPG und der Türkei weitergeht, dann werden die Leute aus al-Hul vermutlich irgendwann versuchen, aus dem Lager zu entkommen.

Würden sie dann wieder den Kampf aufnehmen?
Nicht alle im Lager würden Waffen aufnehmen. Es sind ja hauptsächlich Familien. Es heißt immer, es kämen dann Zehntausende IS-Kämpfer raus. Das stimmt so nicht. Aber falls die ­IS-Kämpfer und ihre Familien wirklich raus wollen, denke ich nicht, dass sie zu halten sind.

Wie sieht es in anderen Camps aus?
Ain Issa ist ein Camp relativ nah an der Grenze. Es liegt zwischen Kobanê und Manbij. Es kam unter Beschuss, da sind IS-Leute abgehauen. Es ist zurzeit schwer, solche Informationen zu verifizieren.
 


Tobias Buckler ist Notfallsanitäter. Seit 2014 arbeitet er regelmäßig in den zumeist in den kurdischen Gebieten Syriens und im Irak für verschiedene Nichtregierungsorganisationen. Mit der »Jungle World« sprach er über die Situation im Flüchtlingslager al-Hul im Nordosten Syriens, wo sich derzeit mehrere Tausend internationale und syrische Kämpfer des Islamischen Staats zusammen mit ihren Familien befinden.