Labour-Partei und der Brexit

Erst die Macht, dann die Entscheidung

Die Labour-Partei will mit einem ambitionierten Sozialprogramm zu den Wahlen antreten. Erst nach einer Regierungsübernahme soll über den EU-Austritt entschieden werden.

Labour ist keine »Remain«-Partei. Während die konservativen Tories sich ­unter Premierminister Boris Johnson als treibende Kraft für den EU-Austritt präsentieren, der aus ihrer Sicht einen »neuen Kurs und eine neue Richtung« für das Vereinigte Königreich festlegen soll, bleibt die Labour Party weiterhin unverbindlich. Zunächst, so die derzeitige Beschlusslage, soll Labour die Regierung bilden, erst dann soll ein zweites Referendum stattfinden, bei dem sich die Briten, so der Parteivorsitzende Jerem Corbyn, »zwischen einem intelligenten Arrangement mit der Europäischen Union und dem Verbleib« entscheiden.

Anhänger eines »linken Brexit« üben nach wie vor erheblichen Einfluss auf die Labour-Spitze aus.

Statt über die Haltung zur EU definiert sich die Partei lieber über ein Programm für »soziale Gerechtigkeit« und eine klare sozialdemokratische Position. »Die Labour-Partei wird das ­radikalste, am deutlichsten menschenbezogene und hoffnungsvollste Programm der heutigen Zeit liefern«, sagte Corbyn am 10. Oktober in einer Rede vor Parteimitgliedern in Northampton. Ein Wahlsieg von Labour wäre eine »einmalige Chance, das Land umzugestalten«. Was tatsächlich im Wahlprogramm der Partei stehen wird, ist noch offen. Bisherige Ankündigungen und Beschlüsse lassen aber für britische Verhältnisse Gewagtes erwarten.

Der nächste reguläre Wahltermin ist zwar erst der 5. Mai 2022, doch wird allgemein mit vorgezogenen Neuwahlen gerechnet, womöglich noch in diesem Jahr. Das Programm der Partei, über dessen Gestaltung auch beim Parteitag im September abgestimmt wurde, weicht jedenfalls erheblich von der wirtschaftsliberal geprägten Politik von »New Labour« der vergangenen zwei Jahrzehnte ab. Es ist geprägt von der neuen Basis der Partei, die vor ­allem aus jungen Linken besteht, teils auch aus dem linksradikalen Milieu. Die Basisbewegung Momentum, die den linken Flügel der Partei unter Corbyn unterstützt, stellt 40 000 Mitglieder der Labour-Partei und hat als gut organisierte Lobbygruppe erheblichen Einfluss auf deren Politik. Es ist nicht zuletzt Momentum zuzuschreiben, dass die Partei sich zurzeit verstärkt und umfassend auf sozialpolitische Themen konzentriert und bereit ist, politisch in die Offensive zu gehen. Es geht nicht nur um die Rücknahme von Kürzungen bei Sozialleistungen, sondern auch um eine Umstrukturierung der bestehenden Institutionen.

Die auf dem Parteitag beschlossenen Programmpunkte legen Labour auf umfassende Änderungen in Kernbereichen wie Sozialleistungen, Arbeitnehmerrechte, Ausbildung und Wohnungswesen fest. So soll die Viertagewoche innerhalb der nächsten zehn Jahre eingeführt werden, Arbeitende und Angestellte sollen bei gleichem Lohn nur noch 32 Stunden die Woche arbeiten. John McDonnell, Finanzminister im Schattenkabinett der Partei, versprach auch, dass Labour »vom ersten Tag an volle Gewerkschafts- und Arbeitnehmerrechte wiederherstellen« werde.

 

Labour strebt auch tiefgreifende Reformen bei den bestehenden Sozialleistungen an, die in den vergangenen Jahren immer stärker gekürzt wurden. Der »Universal Credit«, der Arbeitslosengeld und Sozialhilfe zusammenlegte, soll abgeschafft und durch ein neues Sozialleistungssystem ersetzt werden. Unter Labour soll es keine ­Arbeitsunfähigkeitsuntersuchungen und Strafmaßnahmen im Zusammenhang mit Sozialleistungen geben, beispielsweise beim Nichterscheinen zu einem Termin beim Arbeitsamt.

Auch eine Reform des Schul- und Ausbildungssystems ist geplant. Die Studiengebühren sollen abgeschafft werden. Auf dem Parteitag stimmte zudem die Mehrheit der Delegierten dafür, Privatschulen in staatliche Schulen zu überführen. Dies wäre eine erheb­liche Veränderung des Ausbildungssystems, denn Privatschulen sind nicht nur der bevorzugte und exklusive Ausbildungsort der wirtschaftlichen und politischen Führungsschicht, sie tragen auch jährlich 11,7 Milliarden Britische Pfund zum Bruttoinlandsprodukt bei. Labour will diesen Schulen ihren Status als Stiftungen aberkennen. Das zöge auch die Umverteilung des Besitzes dieser Schulen, der Stiftungsgelder und Dotierungen, Investitionen und des Grundbesitzes nach sich. Zwar werden nur sieben Prozent der britischen Schülerinnen und Schüler insgesamt und 18 Prozent derer ab 16 Jahren an diesen Schulen ausgebildet, aber sie stellen fast 30 Prozent der Studierenden an Eliteuniversitäten wie Oxford und Cambridge. Labour will auch erreichen, dass Universitäten nur so viele Studierenden von Privatschulen zulassen, wie es deren Anteil an der gesamten Schülerschaft entspricht.

Labour will darüber hinaus kostenlose Kindergartenplätze für alle zwei- bis vierjährigen Kinder einrichten, die Kosten für Schuluniformen reduzieren und eine kooperative Universität gründen, an der Produktion, Verteilung und Austausch von Wissen genossenschaftlich geregelt werden. Dies ist nicht das einzige genossenschaftliche Projekt, das Labour plant. 300 Millionen Pfund sollen etwa für die Einrichtung von gemeindeeigenen car sharing clubs bereitgestellt werden.

Auch die Wohnungswirtschaft soll reformiert werden. Hohe und rasant steigende Mieten bei schlechtem Wohnungsstandard sind ein Problem für viele, vor allem in den Ballungszentren. Mieten im Privatsektor sollen daher prozentual nicht stärker steigen als die Löhne oder die Konsumentenpreise, wobei die niedrigere Rate ausschlaggebend sein soll. Das Programm der Partei sieht auch den Bau von mehr Sozialwohnungen vor, die Entkriminalisierung von Obdachlosigkeit und mehr Unterstützung für Obdachlose, deren Zahl die NGO Shelter 2018 auf etwa 320 000 schätzte.

»Labour’s Socialist Green New Deal« soll Großbritannien »auf den Weg« zu einem Netto-Kohlendioxidausstoß von null Tonnen bis 2030 bringen, jegliche Treibhausgasemissionen müssten ab diesem Zeitpunkt also durch Rückholung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre kompensiert werden. Erreicht werden soll dies unter anderem durch die Verstaatlichung der Eisenbahn, den Ausbau des öffentlichen Verkehrs und öffentliche Investitionen in erneuerbare Energien. 

 

Die staatliche Gesundheitsversorgung soll mehr Geld erhalten, durchsetzen will Labour zudem die kostenfreie Altenpflege und Bereitstellung von Medikamenten, die Abschaffung von Abschiebegefängnissen, die Einführung des Wahlrechts für in Großbritannien lebende Ausländer und Maßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit.

Vergleichsweise dezent ist Labour in der Steuerpolitik. Der höchste Einkommenssteuersatz, fällig ab 123 000 Pfund pro Jahr, soll 50 Prozent, die Unternehmensteuer 26 Prozent betragen. Das wirft die Frage auf, wie das ambitionierte Sozialprogramm finanziert werden soll, zumal während einer nach einem EU-Austritt wohl unabhängig von den Modalitäten zu erwartenden Rezession.

Anhänger eines »linken Brexit«, der eine Befreiung vom »Neoliberalismus« der EU bringen soll, üben offenbar nach wie vor erheblichen Einfluss auf die Labour-Führung aus. Zudem will die Partei ihre EU-feindlichen Wähler nicht verprellen, verzichtet damit aber auch auf die Chance, neue Wählerschichten zu gewinnen. »Remainer« finden nur bei den Liberaldemokraten und der relativ kleinen Green Party eine parlamentarische Vertretung.

Obwohl die Parteibasis inzwischen mehrheitlich gegen den EU-Austritt ist und von Labour verlangt, sich klar ­dagegen auszusprechen, gibt Corbyn nicht nach. Er verspricht allerdings, das Ergebnis eines zweiten Referendums zu respektieren: »Als Premierminister werde ich umsetzen, was ­immer die Menschen entscheiden.« Dass der Parteivorsitzende von einem »intelligenten Arrangement« spricht, das er auszuhandeln gedenke, deutet jedoch darauf hin, dass die Partei dann auch für dieses Arrangement werben wird. Sofern es nicht schon vorher zustandekommt: Nach Johnsons Nieder­lage am Samstag forderte Labour zwar erneut Neuwahlen, verhandelte aber auch mit gemäßigten Tories und der nordirischen DUP, um eine Mehrheit für einen »weichen Brexit« zusammenzubekommen, bei dem Großbritannien in einer Zollunion mit der EU verbliebe. 

Sollte eine Labour-Regierung gänzlich unabhängig von der EU Außenpolitik betreiben, wäre diese gegen Israel gerichtet. Die Mehrheit der Parteimitglieder hält einen Boykott des Landes im Zuge einer neuen »ethischen Außenpolitik« von Labour für notwendig. Damit ist hauptsächlich ein Waffenembargo gegen Israel gemeint, aber auch ein Boykott von Produkten aus den Siedlungsgebieten und die Ablehnung von Handelsverträgen mit Is­rael, die »die Rechte der Palästinenser nicht anerkennen«. Generell soll Labour wegen der »besonderen Verantwortung Großbritanniens als ehema­lige Kolonialmacht« stärker im israelisch-palästinensischen Konflikt intervenieren.

Die sozialpolitische Erneuerung der Partei geht einher mit der Übernahme höchst problematischer außenpolitischer Ziele und dem Unwillen, sich in der derzeit drängendsten politische Frage zu entscheiden. Zumindest Letzteres ist auch wahltaktisch von Bedeutung. Falls Labour die nächsten Wahlen gewinnen sollte, bleibt zudem fraglich, ob die Partei ihr Programm durchsetzen kann.