Tunesien nach der Präsidentschaftswahl

Robocop sucht Verbündete

In Tunesien hat der erzkonservative Jurist Kaïs Saïed die Präsidentschaftswahl gewonnen. Um seine Vorhaben durchzusetzen, braucht er Unterstützung, etwa durch eine starke Regierungskoalition. Deren Bildung gestaltet sich allerdings schwierig.

Nun ist es offiziell. Am Donnerstag voriger Woche hat die oberste tunesische Wahlbehörde (ISIE) vorläufig bestätigt, dass Kaïs Saïed die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen vom 13. Oktober mit deutlichem Vorsprung gewonnen hat. Mit 72,71 Prozent der Stimmen hat der 61jährige Verfassungsrechtler seinen Rivalen, den Medienunternehmer Nabil Karoui, deklassiert. Dieser war am 23. August unter undurchsichtigen Umständen im Zuge eines seit drei Jahren anhängigen Verfahrens wegen Geldwäsche und Steuerflucht inhaftiert und erst zwei Tage vor dem offiziellen Ende der Wahlkampagne freigelassen worden. Bereits am Wahlabend hatte eine enthusiastische Menge von Tausenden Menschen mit Feuerwerk, Sprechchören und dem Singen der Nationalhymne auf der Avenue Habib Bourguiba im Zentrum von Tunis den absehbaren Wahlsieg Saïeds gefeiert. Karoui, der »tunesische Berlusconi«, der in einer Fernsehdebatte mit Saïed am Freitag vor dem zweiten Wahlgang vollmundig das »Ende der Armut« in Tunesien versprochen hatte, sagte vorige Woche, er werde das Wahlergebnis nicht anfechten. Die Präsidentschaftswahl war notwendig geworden, weil der Amtsinhaber Béji Caïd Essebsi, dessen Amtszeit Ende des Jahres geendet hätte, im Juli im Alter von 92 Jahren gestorben war.

Saïeds Wählerschaft rekrutiert sich vor allem aus Jugendlichen, die von den ausbleibenden Erfolgen des Demokratisierungsprozesses enttäuscht sind.

Der designierte Präsident Saïed vertritt erzkonservative Ansichten. Er ist gegen die Legalisierung von Homosexualität, gegen die Gleichstellung von Frauen im Erbrecht, weil das gegen den Koran verstoße, und für die Todesstrafe. Eine progressive Erbrechtsreform wird derzeit debattiert; die Todesstrafe wurde in Tunesien seit 1991 nicht mehr vollstreckt, gilt allerdings weiterhin für bestimmte Straftaten. Die »Normalisierung« der Beziehungen des tunesischen Staats zu Israel betrachtet Saïed als Hochverrat. Er gilt als unbestechlich und verspricht, die Korruption zu beenden. Wegen dieser Ansichten und seiner abgehackten Redeweise trägt er den Spitznamen »Robocop«. Als Parteiloser präsentierte er sich als unabhängig und führte einen eigenwilligen Straßenwahlkampf ohne Plakatkampagne, der ihn auch in die vernachlässigten Landesteile im Zentrum und Süden Tunesiens führte und den hauptsächlich jugendliche Unterstützer in die sozialen Medien trugen. Als einer seiner Berater fungiert Ridha Mekki alias »Ridha Lenin«, ein ehemaliges Mitglied der arabisch-nationalistischen Partei Vereinigte Demokratische Patrioten (vormals Bewegung Demokratischer Patrioten, Watad), der auch der 2013 von ­Jihadisten erschossene Chokri Belaïd angehörte und die sich dem linken Parteienbündnis Front Populaire angeschlossen hatte.

Saïed bestritt seinen Wahlkampf unter dem Motto »Das Volk will«, das an die Revolte von 2010/2011 gegen den autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali anknüpfte. Er war damals bei den Platzbesetzungen vor den Ministerien in Tunis zugegen und hatte mit den jugendlichen Revoltierenden diskutiert. Nachdem die Hochrechnungen ihm am Wahlabend den Sieg ­prognostiziert hatten, sagte er auf einer Pressekonferenz: »Die Epoche der Unterwerfung ist vorbei. Wir sind in eine neue Etappe der Geschichte eingetreten.«

 

Saïeds Wählerschaft rekrutiert sich vor allem aus Jugendlichen, die von dem wirtshaftlichen Desaster, das den nunmehr acht Jahre währenden Demokratisierungsprozess begleitet, enttäuscht sind. Die Arbeitslosenrate ist hoch, viele Arbeitsplätze sind prekär und die Inflationsrate lag zuletzt bei etwa sieben Prozent, was die Kaufkraft der Unterklasse enorm schwächt. Nach Angaben des Meinungsforschungsins­tituts Sigma Conseil stimmten im zweiten Wahlgang etwa 90 Prozent der Wählerinnen und Wähler zwischen 18 und 25 Jahren für Saïed. Die Wahlbeteiligung lag bei 55 Prozent, im ersten Durchgang waren es etwa 45 Prozent gewesen. Bei den Parlamentswahlen am 6. Oktober hatten lediglich etwa 41 Prozent der Wahlberechtigten abgestimmt, was das in Tunesien weit verbreitete Misstrauen gegenüber dem etablierten Parteiensystem spiegelte.

Saïed fordert eine weitgehende institutionelle »Revolution«, die »die Macht dem Volk« zurückgeben soll. Die politisch-administrative Struktur soll reorganisiert werden, von unten nach oben. Wahlen sollen zunächst auf lokaler Ebene stattfinden, die lokal Gewählten sollen sodann an Regional-, und schließlich Nationalwahlen teilnehmen. Wahllisten sollen dabei keine Rolle spielen. »Vorab muss eine Vereinbarung über das getroffen werden, was der Repräsentant, ist er gewählt, ausführen soll.

Arbeitsgruppen sollen organisiert werden, um ein Projekt auszuarbeiten, das es dem lokalen Rat erlaubt, einen ökonomischen, sozialen, kulturellen Plan für die lokale Entwicklung vorzubereiten«, zitierte jüngst die Website nawaat.org Saïeds Vorschlag, den er in einem 2018 veröffentlichten Interview vorgestellt hatte. Den Lokalräten kann das Vertrauen entzogen werden. Die aus deren Repräsentanten zusammengesetzten Regionalräte sollen die auf lokaler Ebene entworfenen Projekte aufeinander abstimmen und zudem ihre Repräsentanten für die Legislative auf nationaler Ebene bestimmen. Auf dieser Ebene sind Misstrauensanträge vorgesehen, beim ersten soll die Regierung zurücktreten, beim zweiten während desselben Mandats der Präsident. »So wird die Legitimität des Volks (légitimité populaire), die sich in der parlamentarischen Versammlung verkörpert, stärker als die des Präsidenten«, sagte Saïed in besagtem Interview.

 

Um diese institutionelle »Revolution« durchzusetzen, müsste die 2014 verabschiedete Verfassung geändert werden. Diese gewährt dem tunesischen Präsidenten nur beschränkte Vollmachten, hauptsächlich auf den Gebieten der Diplomatie, der Außen- und der Verteidigungspolitik. Saïed betont regelmäßig, er wolle als Präsident innerhalb des Rahmens der Gesetze und der Verfassung handeln. Für eine Verfassungsänderung wäre allerdings eine Zweidrittelmehrheit im Parlament nötig, weswegen Saïed auf eine Zusammenarbeit mit einer parlamentarischen Mehrheit und einer künftigen Regierungskoalition angewiesen ist.

Hier beginnen Saïeds Probleme, die auch seine stets betonte politische Unabhängigkeit in Frage stellen. Die Parlamentswahlen vom 6. Oktober haben einen Flickenteppich von Abgeordneten diverser Parteien hervorgebracht, die Bildung einer Regierungskoalition ist eine komplizierte Aufgabe. Mit 52 der insgesamt 217 Parlamentsabgeordneten stellt die islamistische Partei al-Nahda die größte Fraktion, sie hat jedoch im Vergleich zu der Wahl 2014, bei der sie 69 Mandate errungen hatte, Sitze verloren. Zweitstärkste Kraft ist die Partei des unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Karoui, Qalb Tounès (Herz Tunesiens), mit 38 Sitzen; darauf folgen die sozialdemokratische Partei Courant democratique mit 22 Sitzen sowie die islamistisch-extremistische Koalition al-Karama mit 21 Mandaten. Der Parti destourien libre, der sich in der Nachfolge Ben Alis präsentiert, errang 17 Sitze. Die mit al-Nahda seit 2014 regierende, eher säkulare Partei Nidaa Tou­nès des verstorbenen Präsidenten Essebsi ist nach verschiedenen Spaltungen marginalisiert und erhielt lediglich drei Mandate; 2014 waren es noch 86 gewesen. Der linke Front populaire hat statt der 2014 errungenen 15 Mandate nur noch eines. Der tunesische Politologe Hatem M’rad bezeichnete das Ergebnis der Parlamentswahlen als selbstmörderischen »Wahlnihilismus« und kommentierte: »Man wählt mangels authentischer oder inspirierter Demokraten nicht mehr für die Demokratie oder für Ideen, sondern für Eindrücke, Vermutungen, für das politische Abenteurertum.«

Voraussichtlich wird al-Nahda als stärkste Fraktion mit der Bildung einer Regierungskoalition betraut werden. Wie die Partei eine Mehrheit zustande bringen soll, ist ungewiss. Saïed teilt mit al-Nahda zwar einen religiösen Konservatismus, aber die Partei hängt der repräsentativen Demokratie in einem parlamentarischen System an – schlechte Voraussetzungen für Saïeds institutionelle »Revolution«. Auf die Frage, wie er seinen Mangel an parlamentarischer Unterstützung ausgleichen wolle, antwortete er bei der Fernsehdebatte mit Karoui: »Meine parlamentarische Gruppe ist das Volk.« Enorme politische Spannungen sind programmiert.