Massenproteste in Chile

30 Pesos für 30 Jahre

In Chile hat die Erhöhung des U-Bahnfahrpreises in der Hauptstadt Santiago de Chile Massenproteste im ganzen Land ausgelöst. Viele Menschen erinnern sie an den Widerstand gegen die 1990 beendete Diktatur, mit deren Erbe das Land bis heute zu kämpfen hat.

Mit Sicherheit sind die Proteste dieses Oktobers in Chile die bedeutendsten in der Geschichte des Landes seit der Wiedererlangung der Demokratie im Jahr 1990. Alles begann mit einer Maßnahme, die zunächst unwichtig erschien, jedoch große Proteste auslöste. Sie wecken die Hoffnung, etwas an der Gegenwart und der Zukunft verändern zu können, die von der Logik des Konsumsystems und vom neoliberalen Glücksversprechen bestimmt werden. Mitte Oktober erhöhte die Regierung den U-Bahnfahrpreis in der Hauptstadt Santiago de Chile um 30 chilenische Pesos (3,7 Eurocent). Daraufhin rebellierten Hunderte Schülerinnen und Schüler und riefen die Bevölkerung auf, die Erhöhung zu boykottieren. Die Menschen übersprangen die Drehkreuze und flohen vor den Wachen in den Bahnhöfen. Als die Regierung die Polizei schickte und einige Bahnhöfe schloss, öffnete die Menge gewaltsam die Absperrungen und überrannte diejenigen, die es wagten, sich ihr entgegenzustellen.

»Die Regierung hat sich entschieden, den Menschen entgegenzukommen, und Veränderungen angekündigt, die aber nur Stückwerk sind. Wir müssen weiterkämpfen.« 

Die Proteste weiteten sich aus, auch auf andere Städte Chiles, denn für ­Unmut hatte auch die landesweite Erhöhung der Strompreise gesorgt. Die Regierung schickte noch mehr Polizei. In der Nacht vom 18. auf den 19. Oktober eskalierten die Proteste, es gab zunächst einige Scharmützel und Sachschäden, dann Vandalismus. In mehreren U-Bahnhöfen wurde Feuer gelegt, Supermärkte, Geschäfte, Unternehmen, öffentliche Gebäude und Stadtbusse wurden angegriffen, in einigen Fällen wurde auch geplündert. Mindestens 20 Menschen starben bislang, viele davon bei Plünderungen, einige jedoch auch durch Polizisten und Soldaten, die teils mit scharfer Munition auf Protestierende schossen.

La Legua ist ein Arbeiterviertel in Santiago de Chile, das nicht nur für seine Probleme wie Armut und Bandenkriminalität, sondern auch für die Widerständigkeit und Selbstorganisation seiner Einwohnerinnen und Einwohner bekannt ist. Alejandro Pérez aus La Legua meint zu den Protesten: »Was die Regierung Vandalismus nennt, ist ein Akt der Gerechtigkeit und Würde gegen den Missbrauch durch die Mächtigen, ein Aufschrei der Erleichterung. Das erinnert mich an die Erfahrung des Kampfes gegen die Diktatur, ich habe das Gefühl, dass wir nicht mehr aufhören.« Nevenka Álvarez, eine Ordensfrau, die aus der Stadt Coquimbo nördlich von Santiago de Chile kommt, hat sich den Massendemonstrationen angeschlossen. Sie fügt hinzu, dass sie mit ihrer Anwesenheit auf der Straße gegen »ein grausames und entmenschlichendes neoliberales Wirtschaftssystem« protestiere. »Als Ordensfrauen sind wir keine Opfer des Systems, wir sind vielmehr privilegiert. Dennoch müssen wir uns dessen bewusst sein, dass wir eine moralische Pflicht haben«, Missstände anzuprangern, »insbesondere müssen wir bei denen sein, die darunter leiden.«

 

In der Tat gingen die Menschen, wie damals während der Diktatur, in ihren Vierteln auf die Straße, zündeten Barrikaden an, sangen, tanzten, schrien und stellten sich der Polizei entgegen – eine spontane Bewegung ohne Ver­treter, ohne politische Parteien, die die Forderungen formulierten. In den zentralen Straßen Santiago de Chiles, auf der Alameda, auf der Salvador ­Allende einst vorhersagte, dass hier der freie Mann wandeln werde, der Sohn einer gerechteren und brüderlichen Gesellschaft, wurde das Motto ausgegeben: »Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre« – in denen das Leben vom Erbe der Diktatur gepägt war.

Über eine Million Menschen demonstrierten friedlich. Die Regierung von Präsident Sebastián Piñera erklärte in einigen Regionen Chiles ­jedoch den Ausnahmezustand, überantwortete die Sicherheit Chiles der ­Armee, die eine Ausgangssperre für sechs Tage verhängte, und behauptete, es gebe einen mächtigen und organisierten Feind, dessentwegen sich das Land im Krieg befinde. Erst in der Nacht zum Montag dieser Woche hob sie den Ausnahmezustand wieder auf.

Der Einsatz der Armee auf den Straßen des Landes ließ alte Traumata wieder hochkommen und erinnerte an die Diktatur unter Augusto Pinochet (1973 bis 1990), in deren Zeit etwa 3 000 Menschen ermordet und Zehntausende gefoltert wurden. Zugleich wurden damals das neoliberale Wirtschaftsmodell durchgesetzt und eine Verfassung geschrieben, die auch die Politik der folgenden demokratischen Regierungen prägte. Marco Marín, ein Musiklehrer, der sich an den jüngsten Demonstrationen beteiligte, sagt, aus diesem Grund müsse man »den Wert junger Menschen wiederentdecken, die mit ihrer Sprache und auf ihre Weise keine Angst zu haben scheinen, auf die Straße zu gehen. Das veranlasst uns, unseren Weg und unsere eigenen Kämpfe zu hinterfragen angesichts der Zurücknahme von Rechten, die einst erobert worden waren.« Anita Sánchez, eine Einwohnerin von Villa Francia, ­einem anderen für seine Widerständigkeit bekannten Viertel in Santiago, sagt über den Widerstand: »Ich habe die strenge Diktatur erlebt, und jetzt hatte ich Angst um das Leben der jungen Menschen. Ich dachte, man würde sie alle töten, weil sie uns zum Protest mobilisierten. In diesem Moment gibt es Tote, Gefolterte und Inhaftierte, aber dennoch macht die Bevölkerung mit. Ich habe wieder Hoffnung, weil Chile aufgewacht ist.« In der Tat zählt »Chile ist aufgewacht« neben »Wir haben keine Angst mehr« und »Genug des Missbrauchs, wir wollen eine gerechte Gesellschaft« zu den Parolen der derzeitigen Proteste.

 

Die Menschen sind empört und verärgert, nicht nur wegen der Vergangenheit, sondern auch weil viele sich vom Wirtschaftsmodell und dem poli­tischen Wandel nach dem Ende der Diktatur versprachen, dass die kapitalistische Ordnung nun für alle von Nutzen sein würde. Mit den Jahren nahm die Frustration zu, das Marktmodell schien so ungerecht wie irreversibel. Bildung, Gesundheit und Altersvorsorge wurden zur Ware. Die soziale Ungleichheit ist skandalös, Ausdruck einer Klassengesellschaft, deren Profiteure gegenüber den Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit gleichgültig sind und in der diejenigen, die die ökonomische und politische Macht in ihren Händen konzentrieren, sich der Straflosigkeit sicher sein können.

Chile hat mehrere Tage intensiver und massenhafter Proteste hinter sich. Die Menschen drängen auf strukturelle Veränderungen, die mit der Verfassung von Pinochet, mit der Konzentration der Macht, mit wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ungleichheit Schluss machen sollen. »Wir brauchen eine Veränderung, die beinhaltet, dass sich alle nach ihrer Verantwortung für den Aufbau einer besseren Gesellschaft fragen«, sagt Juan Pedro, ein ­Einwohner von Villa Francia. »Die Regierung hat sich entschieden, den Menschen entgegenzukommen, und Veränderungen angekündigt, die aber nur Stückwerk sind. Sie hat nicht die Absicht, auf die Forderungen der Menschen einzugehen. Wir müssen weiterkämpfen.«

Mittlerweile diskreditieren die Regierung und die Politiker die Proteste nicht mehr, sondern behaupten, dass deren Botschaft verstanden worden sei und die Veränderungen bereits begonnen hätten. Die Soldaten wurden zurück in die Kasernen beordert. Piñera erklärte, unterstützt von unkritischen Medien, dass die Normalität im Land wiederhergestellt sei und dass er für einen »neuen Sozialpakt« zur Verfügung stehe. Die Regierung hat verschiedene Maßnahmen angekündigt, darunter die Anhebung des Mindestlohns und der Mindestrente, das Einfrieren der Strompreise, die Senkung von Arzneimittelpreisen und höhere Steuern für Spitzenverdiener. Am Montag tauschte Piñera acht seiner Minis­terinnen und Minister aus, darunter Innenminister Andrés Chadwick. Für die staatliche Gewaltanwendung, die für einige der 20 Toten und für Tausende Verletzte verantwortlich ist, übernahm Piñera sonst keine politische Verantwortung. Hoffnung auf die strukturellen Veränderungen, die die Menschen fordern, gibt es nicht, sofern Proteste und ziviler Ungehorsam nicht andauern. Die aber sollen diese Woche auf der Straße weitergehen.