Präsidentschaftswahl in Algerien

Bouteflikas langer Arm

In Algerien gehen die Proteste gegen das alte Regime weiter. An den für den 12.Dezember geplanten Präsidentschaftswahlen nimmt kein Oppositionskandidat teil.

In den ersten Monaten dieses Jahres schien es noch, als wäre der Machtwechsel in Algerien nicht weit. Wegen Massenprotesten war Präsident Abde­laziz Bouteflika am 1. April zurückgetreten, Interimspräsident Abdelkader Bensalah führt seither eine Übergangsregierung (Jungle World 14/2019). Doch die Proteste rissen nicht ab, die Präsidentschaftswahlen wurden verschoben. Denn die soziale und politische Protestbewegung fordert das Abdanken der »gesamten Oligarchie« vor der nächsten Wahl. Viele Protestierenden befürchten, der künftige Amtsinhaber könnte innerhalb weniger Monate eine Restauration des alten Regimes ein­leiten.

Die Demonstrierenden skandierten: »Es wird nicht gewählt«, und: »Für eine neue Unabhängigkeit, für eine neue Revolution« – gemeint ist die Unabhängigkeit vom alten Regime.

Am 15. September kündigte Bensalah Präsidentschaftswahlen für den 12. Dezember an. Seither wächst der Druck der Machthaber auf die Protestbewegung. Am 20. September verhinderte ein enormes Polizei- und Armeeauf­gebot erstmals die Anreise von Demonstrierenden aus anderen Landesteilen in die Hauptstadt Algier. Am 8. Oktober versuchten Ordnungskräfte zum ersten Mal, den allwöchentlich am Dienstag stattfindenden Protesttag der Studierenden per Verbot zu unterbinden.

Die Dynamik der Protestbewegung konnte dies nicht bremsen. Am 1. November, dem 65. Jahrestag des Beginns des antikolonialen Befreiungskriegs gegen Frankreich (1954 bis 1962), waren allein in Algier über 100 000 Protestierende auf den Straßen. Seit Ende des Sommers hat die Beteiligung an den Protestfreitagen wieder erheblich zugenommen. Auffällig war die große Zahl von protestierenden Frauen. Die Demonstrierenden skandierten: »Es wird nicht gewählt«, und: »Für eine neue Unabhängigkeit, für eine neue Revolution« – gemeint ist die Unabhängigkeit vom alten Regime. Sprechchöre kritisierten auch, dass Bensalah Ende Oktober beim Russland-Afrika-Gipfel in Sotschi dem russischen Präsidenten Wladimir Putin versichert hatte, es sei in Algerien »alles unter Kontrolle«, es gebe nur noch ein paar Unzufriedene. Viele in Algerien empfanden diese Aussagen als »Beleidigung und Erniedrigung«, Zehntausende waren bereits unmittelbar nach ihrem Bekanntwerden, eine Woche vor dem Jahrestag, auf die Straße gegangen.

 

Ein heterogenes Bündnis aus Oppositionsparteien fordert zunächst eine Übergangsperiode, in der neue verfassungsrechtliche Grundregeln erarbeitet werden sollen. Zu diesem Bündnis gehören die beiden konkurrierenden Berberparteien Front Sozialistischer Kräfte (FFS) und Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie (RCD), die ursprünglich trotzkistischen Parteien Arbeiterpartei (PT) und Sozialistische Arbeiterpartei (PST), die von einer Juristin angeführte Kleinpartei Union für Wandel und Fortschritt (UCP) und die ehemaligen kommunistischen Splitterparteien ­Demokratische und Soziale Bewegung (MDS) und Partei für Laizität und ­Demokratie (PLD). Sie alle wollen die Wahlen boykottieren, sollte nicht zuerst eine verfassunggebende Versammlung einberufen werden. Hinzu kommt ein Zusammenschluss von Organisa­tionen der Zivilgesellschaft, darunter Menschenrechtsvereinigungen und unabhängige Gewerkschaften, die nicht dem de facto staatlichen Gewerkschaftsverband UGTA angehören. Letztere rufen dazu auf, sich mit Arbeitskampfmaßnahmen massenhaft an den Oppositionsprotesten zu beteiligen. Einem Streikaufruf für den 28. Oktober folgten zahlreiche Beschäftigte vor ­allem im Bildungswesen, in Krankenhäusern und anderen öffentlichen Diensten.

Die Machthaber wählen sorgsam aus, wer zur Präsidentschaftswahl zugelassen wird. Im Oktober hatten 115 Personen ihr Interesse angemeldet, 23 bewarben sich. Die Wahlbehörde ließ jedoch nur fünf Bewerber zu, wie am Samstag bekannt wurde. Zwei von ihnen, Ali Benflis und Abdelmadjid Tebboune, sind ehemalige Premierminister Bouteflikas, ein dritter, Azzedine Mihoubi, war bis März sein Kulturminister. Hinzu kommen Abdelaziz Belaïd, ein Funktionär der regimenahen Kleinpartei Front al-Moustakbal, die sich von der de facto als Staatspartei fungierenden Nationale Befreiungsfront (FLN) abgespalten hat, und der Islamist Abdelkader Bengrina, von 1997 bis 1999 Tourismusminister unter Bouteflika. Bengrina zählt zur Parlamentsfraktion, die aus den drei islamistischen Parteien al-Bina (Aufbau), al-Nahda (Renaissance) und Adala (Gerechtigkeit) gebildet wurde.

Bereits am 10. Juli hatten die Abgeordneten der beiden Staatsparteien FLN und Nationale demokratische Sammlung (RND), die 1997 aus einer FLN-Abspaltung entstand, einen Vertreter der islamistischen Fraktion, Slimane Chenine, zum Präsidenten der Nationalversammlung gekürt, obwohl die Fraktion nur 15 der 462 Sitze innehat. Offensichtlich sind die Regierenden darum bemüht, eine islamistische Fraktion als ins System eingegliederte Opposition beizubehalten und zu stärken, gleichzeitig jedoch unter Kontrolle zu behalten.

 

Ein Anfang Oktober vom Kabinett angenommener Gesetzentwurf, den das Parlament noch nicht verabschiedet hat – Mitte Oktober wurde vor dem Parlamentsgebäude dagegen demons­triert –, sieht eine stärkere Öffnung des algerischen Erdöl- und Erdgassektors für ausländisches Privatkapital vor. Dieser Sektor wurde 1971 verstaatlicht und erwirtschaftet heute ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts sowie über 95 Prozent der Deviseneinnahmen des Landes. Konkret geht es der Regierung zufolge darum, Investitionen für die Erschließung neuer Förderquellen an­zuziehen. Wie ebenfalls im Oktober bekannt wurde, sind inzwischen 60 Prozent der Öl- und Gasreserven im Land erschöpft, die verbleibenden Ressourcen sind zum Teil aufwendiger und teurer zu fördern. Viele vermuten, dass es vor allem um die Förderung von Schiefergas geht. Dagegen gab es seit 2012 in mehreren Regionen große Proteste wegen zu erwartender Umweltschäden, die auch bewohnte Gebiete betreffen würden.

Die Opposition behauptet, es bedeute einen »Ausverkauf« des einzigen Schatzes, den Algerien in der derzeitigen Wirtschaftsordnung besitze, wenn der Staatsanteil bei Förderprojekten auf unter 51 Prozent gedrückt werden könne. Eine illegitime Regierung wolle hier vor den Wahlen noch schnell Fakten schaffen, um sich »internationale Unterstützung für die Machthaber zu erkaufen«, obwohl bei solch langfris­tigen Entscheidungen keine Eile herrsche. Der Streit um die Privatisierung im Erdölsektor, der viele Algerierinnen und Algerier aufwühlte, dürfte die innenpolitischen Konflikte verschärfen.