Der Ökonom Manuel Sutherland über die Krise in Venezuela

»Die Reformen waren ein Reinfall«

Interview Von Tobias Lambert

Manuel Sutherland, Ökonom, über die Wirtschaftskrise in Venezuela, die Rolle der US-Sanktionen und die Reaktion der Regierung Maduro.

Im August vergangenen Jahres kündigte der venezolanische Präsident Nicolás Maduro ein Programm für wirtschaftliche Erholung und Prosperität an. Was ist ein gutes Jahr später davon übrig geblieben?
Im Rahmen der Währungsreform wurden damals fünf Nullen beim Nominalwert der Landeswährung Bolívar gestrichen. Zudem wollte Maduro die Inflation durch eine Verringerung der Staatsausgaben bekämpfen. Gleichzeitig hob die Regierung jedoch den Mindestlohn um 3 600 Prozent an und kündigte Bonuszahlungen für Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner an. Das konnte nicht funktionieren, Ende 2018 befanden wir uns in einer Hyperinflation. Daher nahm Maduro ab Ende 2018 schrittweise weitere Anpassungsmaßnahmen vor, die er zuvor stets hatte vermeiden wollen.

Welche Maßnahmen waren das?
Die Regierung lockerte die Devisenkontrollen und gab den festen Wechselkurs auf. Es ist somit nicht mehr illegal, US-Dollar zu erwerben und damit zu bezahlen. Die Preiskontrollen für zahlreiche Produkte gibt es de facto nicht mehr. Durch eine restriktivere Geldpolitik konnte die Inflationsrate etwas reduziert werden. Wenn wir uns aber das vergangene Jahr als Ganzes anschauen, waren die Reformen ein Reinfall. Der Preis eines US-Dollars hat sich seit August 2018 von etwa 60 auf über 20 000 Bolívares erhöht. Der Mindestlohn, der ab September 2018 umgerechnet 30 US-Dollar pro Monat betrug, lag trotz immenser zwischenzeitlicher Erhöhungen ein Jahr später bei nur noch zwei US-Dollar pro Monat. Die angekündigte Erhöhung des Benzinpreises auf internationales Niveau hat die ­Regierung gar nicht umgesetzt. Insgesamt waren einige der Maßnahmen zwar richtig, kamen aber viel zu spät.

Welchen Effekt haben die US-Sank­tionen auf die Ökonomie?
Die rein wirtschaftlichen Sanktionen begannen erst im August 2017, als es dem venezolanischen Staat erschwert wurde, frisches Geld auf dem Kapitalmarkt aufzutreiben. Sie wurden dann schrittweise verschärft, bis die US-­Regierung Anfang dieses Jahres Citgo, den venezolanischen Erdölkonzern in den USA, konfiszieren ließ. Mittlerweile beziehen sich die Sanktionen sogar auf Dritte, die mit Venezuela Geschäfte betreiben. Doch im August 2017 hatte das Bruttoinlandsprodukt bereits 30 bis 40 Prozent eingebüßt und der staatliche Erdölkonzern PDVSA war bereits weitgehend kollabiert. Die Sanktionen haben die Krise also nicht ausgelöst. Sie verschärfen sie aber, verschlimmern vor allem die Lage der ärmeren Bevölkerung drastisch und erschweren eine Erholung der Wirtschaft.

 

Wie lässt sich die derzeitige Wirtschaftspolitik Venezuelas charakterisieren?
Die Regierung hat mit ihr nahestehenden Vertretern der Wirtschaft und der Armee unter der Hand eine Öffnung der Ökonomie ausgehandelt. Diese läuft allerdings informell ab. Durch die US-Sanktionen ist es kaum mehr möglich, Kapital außer Landes zu schaffen. Daher wird jetzt wieder vermehrt in Venezuela investiert, aber nicht in öffentliche Dienstleitungen wie Strom, Wasser oder das U-Bahnnetz. Es gibt eine kleine aufstrebende Führungsschicht, die Geld in neue Luxusgeschäfte für importierte Waren oder Luxus­immobilien steckt, die plötzlich wieder gebaut werden.

Die Regierung pflegt noch immer eine sozialistische Rhetorik, von wirtschaftlicher Öffnung ist keine Rede. Wie ist diese Diskrepanz von Diskurs und konkreter Politik zu erklären?
Maduro ist 2013 nur deshalb an die Macht gekommen, weil der in diesem Jahr verstorbene Präsident Hugo Chávez darum gebeten hatte, im Falle seines Todes für Maduro zu stimmen. Von ­Anfang an hat Maduro versprochen, Chávez’ Erbe fortzuführen. Die Öffnung der Ökonomie entspricht aber dem ­Gegenteil von Chávez’ wirtschaftlichem Kurs, daher verkündet die Regierung diese Maßnahmen sehr zurückhaltend. Aus den eigenen Reihen und nicht nur von dort kommt Druck, die Wirtschaft zu öffnen. Mit dem sozia­listischen Diskurs richtet sich die Regierung an ihre eigene Basis, denn sie muss zeigen, dass sie anders ist als die Opposition.

Früher war der US-Dollar offiziell verpönt und nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich, heute kann man praktisch überall in Venezuela mit US-Dollar bezahlen. Ist das die Vorstufe einer offiziellen Dollarisierung der Wirtschaft?
Dass in Dollar bezahlt wird, ist eine Folge der Hyperinflation. Die Leute rechnen und planen so ihre Einkünfte und Ausgaben. Die Geldmenge, die sich in Bolívares zurzeit im Umlauf befindet, entspricht umgerechnet gerade einmal 25 US-Dollar pro Person. Der Regierung blieb also gar nichts anderes ­übrig, als die US-Währung als Zahlungsmittel zuzulassen. Die Anzahl der US-Dollar, die durch Rücküberweisungen von Migranten, Schmuggel und ille­gale Geschäfte ins Land gekommen ist, übersteigt die offizielle Geldmenge wahrscheinlich um ein Vielfaches. Die eigene Währung komplett aufzugeben, ist aber ein komplexer Prozess. In dem Fall wäre es der Regierung überhaupt nicht mehr möglich, Geld zu drucken.

Eine offizielle Dollarisierung wird es also nicht geben?
Aufgrund der US-Sanktionen und weil es ein symbolischer Verrat an den chavistischen Prinzipien wäre, kann die Regierung diesen Weg nicht gehen. Was hätte das für eine Wirkung, wenn Maduro sagen würde: »Wir haben 20 Jahre lang gegen das Imperium gekämpft, um nun den US-Dollar einzuführen.« Eine rechte Regierung würde es wahrscheinlich tun, um die Inflation einzudämmen. Und die meisten Menschen wären damit wohl einverstanden, weil sie in den vergangenen Jahren ihre Ersparnisse in Bolívares verloren haben und außerdem davon ausgehen, dass auch die Löhne nach einer Dollarisierung steigen. Auch von ­linken Gewerkschaftern wird aus diesem Grund die Dollarisierung befürwortet.

 

Mitte Oktober wurde der Mindestlohn von umgerechnet zwei auf etwa 7,50 US-Dollar pro Monat erhöht. Wie überleben die Venezolanerinnen und Venezolaner mit ­derart niedrigen Einkommen?
Im staatlichen Sektor gibt es indirekte Extrazahlungen in Form von Boni und anderen Vorzügen wie Kantinenessen, Zugang zu Lebensmittelkisten oder auch der Zuweisung einer Wohnung im Rahmen des staatlichen Wohnungsbauprogramms Misión Vivienda. Im Privatsektor zahlen praktisch alle Unternehmen mehr als den Mindestlohn, doch auch das ist meist viel zu wenig. Viele Menschen erhalten zudem Rücküberweisungen von migrierten Familienmitgliedern oder versuchen, sich irgendwie etwas nebenher zu verdienen.

Die Anhebung des Mindestlohns hat bisher stets zu mehr Inflation geführt. Was wäre nötig, um den Mindestlohn wieder auf ein existenz­sicherndes Niveau zu bringen?
Innerhalb der Linken ist die Überzeugung verbreitet, die Regierung könnte einfach eine kräftige Erhöhung dekretieren. Das funktioniert aber nicht, wie wir vergangenes Jahr gesehen haben. Die einzige Möglichkeit, den Mindestlohn nachhaltig anzuheben, ist, die Produktivität zu erhöhen.

Alleine schon aufgrund des schlechten Zustands der Infrastruktur etwa bei der Strom- und Wasserversorgung oder im öffentlichen Nahverkehr sind enorme Investitionen nötig. Wie kann Venezuela aus der Situation herauskommen?
Auch wenn es die Linke schmerzt: Den derzeitigen Zustand der Ökonomie haben Strukturen verursacht, die der Chavismus seit 2003/2004 geschaffen hat. Dies hat die enorme Korruption und Plünderung der Erdölrente ermöglicht. Der Dollarkurs wurde künstlich niedrig gehalten, um die Importe zu verbilligen. Das hat gleichzeitig der heimischen Produktion geschadet und dafür gesorgt, dass enorm viel Geld ins Ausland transferiert wurde. In der jetzigen Situation ist es unmöglich, dass die Regierung aus eigener Kraft dieser Krise entkommt, sie verfügt über keine Instrumente dafür. Die Lösung kann nur in einem per Dialog ausgehandelten Übergang bestehen, der die Basis für eine Erholung der Wirtschaft legt.

Wie wahrscheinlich ist eine solche Dialoglösung?
Sie ist unvermeidbar. Dafür braucht es aber eine moderate Opposition und ­einen moderaten Chavismus, das heißt die extremen Strömungen beider politischen Lager müssten außen vor bleiben. Die rechte Opposition verfügt innerhalb Venezuelas über keine wirkliche Macht. Andererseits hat die Regierung keine Möglichkeit, die Sanktionen zu beenden. Vor allem jene Chavisten, die gute Geschäfte machen, wollen, dass Maduro geht. Auch wenn Maduro es nicht verdient hat, muss ihm ein gesichtswahrender Abgang ermöglicht werden. Freiwillig wird die Regierung die Macht nur an eine ihr näherstehende Opposition abgeben, die anschließend weitere Wirtschaftsreformen durchführt, den Verteidigungsminister aber im Amt belässt.