Rassistischer Mordversuch

Normaler Hass

In Berlin wurde eine Frau wegen versuchten Mordes verurteilt. Die Tat war nicht gezielt rassistisch, argumentierte ihr Anwalt. Seine Mandantin habe lediglich ihre Abneigung gegen Sinti und Roma nicht unterdrücken können.

Maria G. konnte das Geschehene noch immer nicht fassen. Detailliert berichtete die 49jährige vor dem Berliner Landgericht beim Prozessauftakt Ende September, wie sie und ihre Familie am 30. März erst antiziganistisch beschimpft und anschließend beinahe ­erstochen worden seien.

»Mein Name ist Maria, nicht ›Scheißzigeuner‹. In meinen Venen fließt Blut wie bei Ihnen.« Beharrlich begleitete G. den Prozess, der am Montag vergangener Woche endete. Die Berlinerin Denise H. wurde des versuchten Mordes an G.s Schwager Viorel M. und der gefährlichen Körperverletzung an G. schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Das von dem Schwur­gericht verhängte Strafmaß übertraf damit die Forderung der Staatsanwaltschaft um drei Monate – trotz der ­Annahme einer verminderten Schuldfähigkeit der Angeklagten. Das Gericht sei zu der Überzeugung gelangt, dass die Verurteilte aus antiziganistischer Motivation gehandelt habe, und werte dies als niedrigen Beweggrund – ein Merkmal des Straftatbestands Mord –, sagte der Vorsitzende Richter Willi Thoms. Eine Tötungsabsicht bei dem Angriff auf Maria G. sah die Kammer nicht.

In ihren Schlussvorträgen waren sich die Prozessparteien zunächst ungewöhnlich einig. Am Ablauf des Geschehens am Tattag gab es kaum Zweifel. Zeugenaussagen und die Aufnahmen einer Überwachungskamera ergaben ein klares Bild: An jenem Samstagmorgen stieg Maria G. gemeinsam mit ­ihrem Mann und ihrem Schwager M. in Reinickendorf in eine U-Bahn. Durch dieselbe Zugtür betrat auch die 37jährige Denise H. den Waggon. H. hatte zuvor viele Stunden in einer Eckkneipe in der Nähe verbracht: die Werbung in deren großen Fenstern verspricht »betreutes Trinken« rund um die Uhr. Bei H. wurde später ein Blutalkoholwert von über zwei Promille festgestellt, mutmaßlich hatte sie auch Kokain oder Amphetamine konsumiert.

Sie war an diesem Morgen aufgebracht, beschimpfte schon am Bahnsteig einen Mann, der um Kleingeld bat, auf antiziganistische Weise. Ohne ersichtlichen Grund sprang H. in der Bahn plötzlich auf, beschimpfte Maria G. und ihre Begleiter als »Scheißzigeuner«. Nach wenigen Sekunden schubste sie G., fasste ihr ins Gesicht und zog ein Messer mit einer siebeneinhalb Zentimeter langen Klinge. Ohne zu zögern, stach sie mit voller Wucht auf die Frau ein, traf sie am Bein, ehe sie sich deren Schwager zuwandte und ihn schwer am Oberkörper verletzte. Nur weil das Messer seine Rippe getroffen habe, so berichtete ein Sachverständiger später vor Gericht, sei er nicht lebensbedrohlich verletzt worden. Maria G. gelang es, Denise H. zu umklammern. Sie rief um Hilfe. Noch einmal wurde sie getroffen, dieses Mal am Hals. Wieder hätten nur wenige Zentimeter zu einer lebensbedrohlichen Verletzung gefehlt, so der Staatsanwalt Dieter Horstmann in der Anklage.

 

Etwa eine Minute nach den ersten Beleidigungen griff ein 55jähriger ­Zeuge ein, packte H.s Handgelenk. Jemand zog die Notbremse. Maria G., ­Denise H. und der Eingreifende, Matthias S., fielen auf den Bahnsteig der Station Rehberge im Ortsteil Wedding. Auch hier tobte H. weiter, versuchte sich aus S.s Haltegriff zu befreien und schrie ihn an: Er sei bescheuert, ihr nicht zu helfen, schließlich seien sie doch beide Deutsche. Nur durch die Gegenwehr der Angegriffenen und die Zivilcourage von Matthias S., auch da waren sich Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung einig, habe ­Denise H.s Tötungsversuch vereitelt werden können.

Antiziganistische Vorfälle sind alltäglich. Die Dokumentationsstelle ­Antiziganismus des Vereins Amaro Foro zählte zwischen 2014 und 2018 allein in Berlin knapp 700 Fälle und geht von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus. Auch schwere Gewalttaten sind nicht ungewöhnlich. Im November 2017 griffen Jugendliche unter antiziganistischen Parolen einen Zirkus im Ortsteil Adlershof an und drohten, die dazugehörigen Wagen in Brand zu stecken. Im Ortsteil Friedrichshain schoss im Juni 2018 ein Mann mit einem Luftdruckgewehr von seinem Balkon aus auf ein Roma-Mädchen. Wenn Straf­taten wie diese überhaupt vor Gericht landen, spielt das antiziganistische Motiv oft nur eine untergeordnete Rolle. Dabei wäre die entsprechende Wür­digung durch die Gerichte für die Betroffenen von großer Bedeutung, sagte Anja Reuss vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma der Jungle World: »Bis heute werden Sinti und Roma als Opfer von Hassgewalt nicht gehört und gesehen. Nicht selten wird ihnen eine Mitschuld an der Gewalt, die sie erfahren, zugeschrieben.«

In Fall von Denise H. rückte die Frage nach dem antiziganistischen Motiv ins Zentrum der Verhandlung. Der Tatvorwurf lautete versuchter Mord. Für Staatsanwalt Horstmann und die Rechtsanwältinnen Nadija Samour und Ilil Friedman, die die beiden Verletzten vertraten, bestand kein Zweifel, dass durch das antiziganistische Motiv das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe erfüllt sei. Horstmann forderte eine Strafe von vier Jahren und sechs Monaten. Er ging von einer verminderten Schuldfähigkeit wegen des Zusammenspiels von starkem Drogenmissbrauch und einer Persönlichkeitsstörung aus.

Die Nebenklage verzichtete auf eine konkrete Forderung. Sie beharrte aber darauf, dass das Gericht die Tat als antiziganistischen Mordversuch würdigen und die Situation der Opfer berücksichtigen solle, die noch immer stark unter den physischen und psychischen Folgen litten. Sie wies auf die gesamtgesellschaftliche Dimension der Tat hin: In dem Mordversuch schlage sich der ­manifeste und weitestgehend akzeptierte Rassismus der Mehrheitsgesellschaft gegen Roma nieder.

 

An diese Einschätzung knüpfte auch H.s Verteidiger Dirk Lammer an, wendete sie allerdings zugunsten seiner Mandantin. Sie habe nicht gezielt rassistisch motiviert gehandelt, sondern den weitverbreiteten tradierten Antiziganismus in einer psychischen Ausnahmesituation lediglich nicht mehr unterdrücken können. Ihre tiefsitzenden Ressentiments hätten sich in den Beleidigungen niedergeschlagen, ­seien aber nicht handlungsbestimmend gewesen.

Antiziganistischer Alltag. Das Berliner Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma wird regelmäßig geschändet.

Bild:
dpa / Paul Zinken

Nach langer Beratung entschied die Strafkammer: H.s Messerangriff war antiziganistisch motiviert, die Attacke gegen Viorel M. ein versuchter Mord. Dass das Gericht den Hass auf Roma und Sinti als Tatmotiv würdigte, hält Anja Reuss für ein gutes und wichtiges Zeichen. Für Unverständnis der Nebenkläger sorgte indes die Bewertung des Angriffs auf Maria G. Die Verletzung am Hals sei ohne Tötungsabsicht im Gerangel entstanden, hier liege lediglich eine gefährliche Körperverletzung vor, so das Gericht. Anwältin Samour sieht in dieser Einschätzung einen Kompromiss, den das Gericht wohl nach ­einer schwierigen Entscheidungsfindung habe treffen wollen, der aber ­unbefriedigend sei. Das Gericht habe es damit verpasst, ein klares Zeichen ­gegen Rassismus zu setzen. Auch Reuss hält die Beurteilung für ein verheerendes Signal: Maria G.s erfolgreiche Gegenwehr habe dazu geführt, dass die Attacke gegen sie nicht als Mordversuch anerkannt werde.

Ob der Urteilsspruch Bestand hat, wird nun ein Strafsenat des Bundesgerichtshof nach Aktenlage entscheiden: Die Verteidigung der Angeklagten hat laut Lisa Jani, der Sprecherin der Berliner Strafgerichte, Revision gegen die Entscheidung des Landgerichts eingelegt. Das Urteil ist deshalb noch nicht rechtskräftig.