Razzien bei »kriminellen Großfamilien«

Achtung, Araber

Die Berliner Polizei geht verstärkt gegen »Clankriminalität« vor. Ist der Begriff rassistisch oder beschreibt er eine Realität?

Wer deutsche Medien konsumiert, stößt dort immer öfter auf »arabische Clans«. Manchmal liest man von spek­takulären Verbrechen, für die nicht einfach ein paar Kriminelle, sondern offenbar ganze Großfamilien verantwortlich sind, etwa der Raub einer riesigen Goldmünze aus dem Berliner Bode-Museum im März 2017.  Oder man guckt die beliebte Fernsehserie »4 Blocks«, die von libanesischen Banden auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln handelt.

Ende Oktober fand in Berlin eine Fachkonferenz statt, bei der Expertinnen und Experten über das Thema »Clankriminalität« diskutierten. Einem Bericht der Berliner Morgenpost zufolge hat Torsten Akmann (SPD), Staatssekretär der Berliner Senatsverwaltung für Inneres, angekündigt, dass es in der seit 2016 währenden Amtszeit von ­Innensenator Andreas Geisel (SPD) 1.000 Razzien gegen Clans in Berlin geben werde. Die Behörden geben sich offenbar Mühe, diese Zahl zu erreichen. Immer wieder werden Lokale und Wohnungen kontrolliert. Besonders auf der Sonnenallee gibt es derzeit häufig Razzien mit Dutzenden Polizeibeamten, bei denen ganze Straßenblocks abgesperrt werden. Am Dienstag voriger Woche protestierten dort Anwohnerinnen und Anwohner sowie Gewerbetreibende mit einem »Shisha-Flashmob« gegen die Razzien.

Shisharauchen gegen Stigmatisierung. Am Dienstag vergangener Woche protestierte ein Flashmob aus etwa 50 Personen gegen Polizeirazzien in Berlin-Neukölln.

Bild:
@flotopress /  Florian Boillot

Doch was ist das eigentlich, Clankriminalität? In der auf die Konferenz folgenden Debatte im Berliner Abgeordnetenhaus sprach sich Niklas Schrader, Abgeordneter der Partei »Die Linke«, gegen die Verwendung des Begriffs »Clankriminalität« aus. »Kriminell sind Taten, keine Familien«, sagte Schrader. »Ganze Familien zu Kriminellen zu erklären, ist stigmatisierend.« Fabio De Masi, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag, schrieb dazu auf Twitter: »Es geht um schwerste organisierte (Finanz-)Kriminalität! Wozu Sprachpolizei? Wir sprechen doch auch vom Aldi-Clan ohne Scheuklappen!«

Im Gespräch mit der Jungle World sagt Schrader, den Begriff der Clankriminalität abzulehnen und bestimmte Ermittlungsmethoden zu kritisieren, schließe nicht aus, organisierte Kriminalität und Finanzkriminalität zu bekämpfen. »Aber wenn man das macht, muss man trotzdem rechtsstaatliche Prinzipien hochhalten, und wenn das nicht passiert, müssen wir Linke das kritisieren.« Der Begriff der Clankriminalität berge die Gefahr, das Problem der organisierten Kriminalität zu ethnisieren.

 

Der Berliner Anwalt Hannes Honecker, Vorstandsmitglied des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, sieht das ähnlich. Clankriminalität, so Honecker im Gespräch mit der Jungle World, sei ein schwammiger und diskriminierender Begriff, durch dessen Verwendung unbescholtene Menschen stigmatisiert würden, nur weil sie einer bestimmten Familie angehörten. Das beeinflusse auch das Handeln der Behörden und der Justiz. Schon bei kleinsten Ladendiebstählen lege die Staatsanwaltschaft nicht mehr das sonst übliche Augenmaß an den Tag, wenn ein Verdächtiger den Namen eines »kriminellen Clans« trage. Seine Mandantschaft sei davon durchaus betroffen.

Ralph Ghadban, der Autor des Buchs »Arabische Clans: Die unterschätzte Gefahr«, hat für solche Einwände kein Verständnis. Die Behörden bemerkten in der Praxis, dass bestimmte Personen untereinander verwandt seien. »Das ist eine empirische Feststellung, die man nicht einfach ignorieren kann, wenn man das Phänomen verstehen will«, sagt der Islamwissenschaftler und Politologe der Jungle World.

Ghadban kam in den siebziger Jahren aus dem Libanon nach Berlin. Später arbeitete er als Sozialarbeiter mit arabischstämmigen Berlinern. Er saß im Anstaltsbeirat der JVA Tegel und nahm an der Islamkonferenz der Bundesregierung teil. Bereits im Jahr 2000 veröffentlichte er das Buch »Die Libanon-Flüchtlinge in Berlin. Zur Integration ethnischer Minderheiten«. Für die Clankriminalität ist Ghadban zufolge vor allem die ethnische Gruppe der Mhallamiye verantwortlich. Diese habe schon im Libanon völlig marginalisiert am untersten Ende der Gesellschaft gelebt. Dort habe sich die Großfamilie als Grundeinheit der sozialen Organisation verfestigt. Sie habe eine wichtige Schutzfunktion gehabt. »Wenn es keinen Sozialstaat gibt, ist man im Notfall auf die Familie angewiesen«, so Ghadban. In den achtziger Jahren seien viele Menschen aus dieser Gruppe wegen des libanesischen Bürgerkriegs nach Deutschland gekommen. Hier habe sich diese Struktur erhalten, auch als manche den Weg zur organisierten Kriminalität einschlugen. »Sie stellen vielleicht syrische Flüchtlinge an, um die Drecksarbeit zu machen, aber auf der Führungsebene gehören alle zum Clan«, sagt Ghadban.

Das »Bundeslagebild Organisierte Kriminalität 2018« des Bundeskriminalamts (BKA) enthält erstmals ein Kapitel zur Clankriminalität. Das BKA ­definiert sie als »Kriminalität von Mitgliedern ethnisch abgeschotteter Subkulturen«. Als Indikatoren für Clankriminalität werden in dem Kapitel unter anderem »eine starke Ausrichtung auf die zumeist patriarchalisch-hierarchisch geprägte Familienstruktur« und »eine mangelnde Integrationsbereitschaft mit Aspekten einer räumlichen Konzentration« genannt. Im Mittelpunkt stünden »besonders jene Personen, die der Volkszugehörigkeit der Mhallamiye, libanesischer oder palästinensischer Herkunft, zugeordnet werden können«.

 

Liest man den Lagebericht, stellt sich allerdings die Frage, ob die Diskussion über »arabische Clans« der tatsächlichen Bedeutung des Phänomens angemessen ist. 2018 gab es in Deutschland 45 Verfahren zur Organisierten Kriminalität (OK), die der Clankriminalität zugeordnet werden konnten. Das entsprach lediglich einem Anteil von 8,4 Prozent der Gesamtzahl solcher Verfahren. In Berlin richteten sich nur fünf von 59 Ermittlungsverfahren zur Organisierten Kriminalität gegen Clankriminalität. Zudem bemerkt das BKA, dass bundesweit »lediglich in zwei OK-Verfahren« gegen Clans eine »homogene Täterstruktur« festgestellt worden sei. Die übrigen Verfahren »zeichneten sich durch eine heterogene Zusammensetzung der Täterstrukturen aus, bestehend aus Tatverdächtigen unterschiedlicher Nationalitäten«. Es sei »jedoch zu vermuten, dass sich die Ebene der Entscheidungsträger innerhalb dieser OK-Gruppierungen weitgehend aus kriminellen Mitgliedern des engsten Familienkreises zusammensetzt und Tatverdächtige anderer Nationalitäten lediglich für ›Handlangerdienste‹ eingesetzt werden«. 

Honecker meint, die Rede von kriminellen Clans trage zur Desintegration der entsprechenden Gruppen bei. Ghadban sieht das anders. Gerade weil man die spezifische kulturelle Problematik nicht gesehen habe, habe man das Integrationsproblem nicht lösen können. Deshalb fordert er ein Aussteigerprogramm für Jugendliche, vor allem für Mädchen, die ihrem engen Großfami­lienverbund entkommen wollen. »Das Ganze wird durch die Unterdrückung der Mädchen zusammengehalten, durch Zwangsehe und Ehe mit Minderjährigen«, sagt Ghadban. Um aussteigen zu können, bräuchten Frauen, die einem Clan angehören, eine sehr lange Begleitung, damit sie eine Ausbildung machen und selbständig werden können. Dafür gebe es in Deutschland aber ­keine Infrastruktur.

Auch Schrader sieht den deutschen Staat in der Verantwortung. Durch eine verfehlte Politik sei die mangelhafte Integration libanesischer Einwanderer befördert worden. Die entsprechenden Familien seien in den achtziger Jahren nach Deutschland gekommen und völlig ausgegrenzt gewesen. Sie seien stets nur für drei oder sechs Monate von der Ausländerbehörde geduldet worden und hätten ständig Angst gehabt, zurück in den Libanon zu müssen. Das entschuldige zwar nicht, dass Mitglieder aus diesen Familien kriminell würden, habe aber dazu beigetragen. Auch Ghadban beklagt, dass man nicht versucht habe, die Familien zu integrieren. Stattdessen habe man das Asylrecht verschärft, damit sie zurück in den Libanon gehen. »Aber sie sind nicht weggegangen, sie wurden nur an den Rand der Gesellschaft gedrängt und haben ihre Clanstrukturen verstärkt«, meint er.