Gefahren für die Demokratiebewegung in Hongkong

Ungesunde Gedanken

Kommentar Von Jörn Schulz

Der Erfolg der Demokratiebewegung bei den Kommunal­wahlen in Hongkong erhöht die Gefahr, dass die chinesische Regierung die Autonomie der Stadt aufhebt.

Menschenrechtler sind in der chinesischen Provinz Xinjiang nicht willkommen, aber vorausschauende und wissbegierige Experten empfängt man dort gerne. Bereits Ende des vergangenen Jahres, Monate vor dem Beginn der jüngsten Protestwelle in Hongkong, fand sich in Xinjiang nach Angaben der South China Morning Post eine »Antiterrorismus-Einsatzgruppe Hongkongs« ein, »um die ­lokalen Methoden zu studieren«. Kopieren wolle man die »umstrittenen Umerziehungszentren« nicht, sagte ein anonymer Regierungsbeamter der Zeitung, doch könne man in Xinjiang lernen, »wie Informationen gesammelt und Einrichtungen geschützt« werden.

Zum Beispiel durch Software zur Gesichtserkennung und andere digitale Überwachungsmethoden, aber auch durch die Einquartierung von Beamten, die patriotische Lektionen im Wohnzimmer halten und das Alltagsleben überwachen. Die Internierung von etwa einer Million Menschen – im Verhältnis zur Bevölkerungszahl der Provinz mehr als in der Sowjetunion unter Stalin – ist nur die spektakulärste Maßnahme in einem beispiellosen Straf- und Umerziehungsprogramm, über das nun offenbar unzufriedene Partei­kader den internationalen Medien neue Informationen zuspielten. Diese »China Cables« belegen unter anderem, dass diese Maßnahmen von Präsident und KP-Generalsekretär Xi Jinping persönlich durchgesetzt wurden. Die wichtigste Frage aber beantworten sie nicht: Wozu dient das zweifellos sehr kostspielige Programm?

Die Wiedereinführung eines Gulag-Systems war auch für jene Experten eine Überraschung, die nicht dem Irrglauben erlegen sind, die kapitalistische Modernisierung werde unweigerlich zu einer langsamen, aber stetigen Liberalisierung Chinas führen. Auch ohne Masseninternierung verfügt der chinesische Staat über fast unbegrenzte Möglichkeiten, tatsächliche oder vermeintliche Bedrohungen zu bekämpfen; und dass Lohnarbeit produktiver ist als Zwangsarbeit, dürfte auch der bornierteste Parteikader in der Marxismus-Leninismus-Schulung gelernt haben.

 

Offenbar handelt es sich um ein großangelegtes Experiment des social engineering, mit dem festgestellt werden soll, ob es möglich ist, eine ganze Bevölkerungsgruppe, in Xinjiang Uiguren und andere Muslime, zur Anpassung ihrer Lebensweise an neue staatliche Vorgaben zu zwingen.

Dass es nicht um die Verfolgung von Straftaten geht, wird in den »China Cables« erneut deutlich. Vielmehr werden »ungesunde Gedanken« als eine Infektion betrachtet, die es durch Quarantäne und Zwangsbehandlung der »Erkrankten« auszumerzen gelte. Zwar ist von »religiösem Extremismus« die Rede, zu dessen Symptomen aber bereits ein Vollbart, die Spende für eine Moschee oder die Nikotinabstinenz gezählt werden.

Es ist daher keineswegs paranoid, wenn die Protestierenden in Hongkong befürchten, dass die chinesische Regierung mit ähnlichen Methoden gegen sie vorgehen wird. Die »ungesunden Gedanken« der Demokratiebewegung sind für deren Herrschaft weitaus gefährlicher als die nur für die muslimische Minderheit relevante kulturelle Abgrenzung von Uiguren. Das Ergebnis der Kommunalwahl in Hongkong vom Sonntag zeigt, wie weit die »Infektion« fortgeschritten ist. Da die Wahlen für die nicht sehr einflussreichen Distriktvertretungen als Referendum über die Proteste betrachtet wurden, verdoppelte sich die Wahlbeteiligung und prodemokratische Kandidaten gewannen 55 Prozent der Stimmen.

Ob die ökonomische Bedeutung Hongkongs der Demokratiebewegung auf Dauer einen Schutz bietet, ist fraglich, zumal wenig dafür spricht, dass ein Ende der Autonomie der Stadt die internationale Geschäftswelt abschrecken würde. In Xinjiang haben nicht zuletzt deutsche Konzerne eifrig investiert. Das Joint Venture, mit dem VW dort produziert, hat ein Abkommen mit der Bewaffneten Volkspolizei geschlossen. Dieses sieht für neue Mitarbeiter »patriotische Erziehung« vor, damit am Fließband keine ungesunden ­Gedanken aufkommen.