Gilles Kepels neues Buch »Chaos«

Appell Kepel

Die Lage im Nahen Osten ist unübersichtlich. Der französische Sozialwissenschaftler Gilles Kepel versucht, sie in seinem neuen Buch »Chaos« zu ordnen. Zugleich wünscht er sich eine stärkere Einmischung der Europäer.

Gilles Kepel, den wichtigsten Orientalisten Frankreichs, überhaupt mit dem deutschen Orienterklärer Michael Lüders zu vergleichen, ist eigentlich eine Unverschämtheit. Kepel schreibt vor Details strotzende Wälzer, die selbst die sachkundige Leserin staunen lassen. Michael Lüders schreibt dagegen schnell lesbare Taschenbücher, in denen er die ­gesamte Entwicklung einer der kompliziertesten Weltgegenden letztlich dadurch zu erklären versucht, dass er auf die Interventionen der USA verweist. Dabei bastelt er sich die Geschehnisse um seine These herum und schmückt sie hier und da etwas aus. Wenn man schon Kepel und Lüders in einem Satz erwähnen wollte, dann wohl nur, um die Frage zu stellen, warum sich in Frankreich komplexe Analysen des Nahen Ostens millionenfach verkaufen, während man hierzulande lieber eine einfache Verschwörungstheorie liest. Und doch drängt sich beim Lesen von Kepels jüngstem Werk »Chaos – Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen« ein Vergleich mit Lüders auf. Denn auch Kepel verteidigt eine These, die sich nur aufrechterhalten lässt, weil er andere Zusammenhänge unerwähnt lässt.

Kepel wünscht sich genau wie der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, zu dessen Beraterkreis er gehört, eine stärkere Rolle Europas in den Konflikten der Region.

Kepel hat eine Agenda. Das offenbart schon der französische Titel, der korrekt übersetzt lauten müsse: »Ausweg aus dem Chaos, Strategie für den Nahen Osten und Nordafrika«. Schon lange tingelt er durch die Talkshows und gibt Interviews, um Eu­ropa vor dem Islamismus zu warnen und zum Handeln zu bewegen.

Er kennt die Gefahren allzu gut. Ende der Achtziger veröffentlichte er eine ausführliche Studie über den Islamismus in den Pariser Vorstädten. Später folgten fast im Jahresrhythmus Werke zum politischen Islam. Zweifellos ist er einer der wichtigsten Jihadismus-Experten weltweit.
Drei Fatwas verhängte der »Islamische Staat« gegen ihn. Er erhielt Po­lizeischutz und durfte zeitweilig sein Haus nicht verlassen. Die Situation habe ihn krank gemacht, er habe fast nur noch im Bett gelegen, erzählte er bei der Buchvorstellung in der französischen Botschaft in Berlin. Aber genau dieser Zeit, in der er sich wie gelähmt gefühlt habe, habe es bedurft, um dieses Werk zu schreiben.

In seinem Buch versucht Kepel, die gesamte jüngere Entwicklung des Nahen Ostens auf 440 Seiten zu erklären. Dabei verknüpft er Ereignisse an unterschiedlichen Schauplätzen, von Afghanistan über Saudi-Arabien bis Marokko, die USA, Europa und Russland, und springt auch mal zu den Mamluken und Osmanen. Der Text ist so dicht an Informationen, dass einem der Kopf schwirrt.

Die Geschichte, die Kepel ausbreitet, ist dabei geradezu das Gegenteil der Welterklärung Lüders’. Während dieser die Islamisten und ihre Regime im Nahen Ostens als Marionetten der USA sieht, führen die Islamisten nach Ansicht Kepels den Westen an der Nase herum wie einen trotteligen Bären.

 

Weder die eine noch die andere These kann wirklich überzeugen. Die Absichten, die Kepel unterstellt, erscheinen oft überinterpretiert. Man weiß zwar, dass al-Qaida der Numerologie große Bedeutung beimisst: 9/11 sei nicht nur die Notrufnummer in den USA, sondern stehe, wenn man die Zahlen umdrehe, auch, wie Kepel darlegt, für den Fall der Berliner Mauer und damit »für den Zusammenbruch des ehemaligen kommunistischen Systems«. Ob aber Khomeini tatsächlich die Fatwa gegen Salman Rushdi absichtsvoll einen Tag vor dem Abzug der letzten sowjetischen Soldaten aus Afghanistan verfasste, damit die westlichen Medien über Ersteres berichten und er so dem Westen den Sieg vermasseln konnte?

Die verheerende Entwicklung in der Region begann Kepel zufolge im Jahr 1973 oder eigentlich in der Zeit zwischen dem Sechstagekrieg 1967 und dem Jom-Kippur-Krieg. Die arabisch-nationalistischen Führer lösten in den fünfziger und sechziger Jahren ihre Versprechen nicht ein. Es gab keine Freiheit, keinen Sozialstaat und die Wirtschaft stagnierte. »Diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit wurde mit Erfordernissen im Kampf gegen den zionistischen Feind begründet.«

Doch der Angriff auf Israel 1967 endete in einer verheerenden Nieder­lage. Diese habe, so Kepel, dem arabischen Nationalismus den Todesstoß versetzt. Damit begann zugleich der Aufstieg des Islamismus und die ­Islamisierung der Politik. Als der ehemalige ägyptische Staatspräsident Gamal Abd-al Nasser drei Jahre später starb, kam mit Anwar al-Sadat ein Herrscher an die Spitze Ägyptens, der deutlich mehr vom Islam geprägt war als sein Vorgänger. Gemeinsam mit Hafez al-Assad, »der wie er nach der Niederlage von 1967 an die Macht gekommen war«, plante er den Yom-Kippur-Krieg, den Keppel den »Ramadan-Krieg« nennt. Da der Krieg während des Ramadan stattfand, brauchte es eine Fatwa, die den Krieg als Jihad qualifizierte und somit den Soldaten die Nahrungsaufnahme erlaubte. Im Nachhinein konnten so die »Siege« als unter Gottes Führung errungene dargestellt werden.

Tatsächlich waren es die Ölmonarchien am Golf, also die Wächter der Heiligen Stätten, die den weit in ihre Länder zurückgedrängten Heeren Ägyptens und Syriens halfen. Das Ölembargo setzte die USA und Europa so unter Druck, dass die USA Israel zur Waffenruhe drängten. Damit hatten die Golfmonarchien eine effektive Waffe gefunden, die steigenden Ölpreise bescherten ihnen Reichtum. Aus dieser Machtposition heraus begann Saudi-Arabien, seine erzkonservative wahhabitische Ideologie in alle Welt zu exportieren.

Schon in diesem ersten Teil der Darstellung fällt auf, dass Kepel unerwähnt lässt, dass mit Hafez al-Assad in Syrien der Baathismus und damit eine Spielart des arabischen Nationalismus gerade erst zur vollen Blüte gelangte. Kepel hängt an seiner klaren Gliederung nach unterschiedlichen Phasen. Diese Ordnung schafft Übersicht und macht das Buch lesbarer. Doch im Kapitel über den syrischen Bürgerkrieg wird es unlauter. Zwar gibt er zu, dass das Assad-Regime den Jihadismus befördert habe. Dass dies absichtsvoll geschehen wäre, sei aber nicht belegbar und reine Mutmaßung. In Teilen übernimmt Kepel sogar die Regime-Propaganda. Die al-Nusra-Front habe sich zum Attentat auf das Geheimdienstgebäude in Damaskus bekannt, schreibt er. Nach Recherchen des Spiegel-Reporters Christoph Reuter muss jedoch bei diesem ersten großen Attentat der Al-Nusra der syrische Geheimdienst selbst aktiv gewesen sein. Namhafte Syrien-Experten haben diese These mit weiterem Material gestützt. Es erscheint schwer vorstellbar, dass Kepel davon nichts wusste. Aber er erwähnt es nicht einmal. Dabei hat Kepel keinerlei Sympathien für das Assad-Regime. Nur möchte er den Jihadismus wohl noch etwas gewaltiger machen, als dieser schon ist. 

Kepel wünscht sich genau wie der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, zu dessen Beraterkreis er gehört, eine stärkere Rolle Europas in den Konflikten der Region. Bei der Buchpräsentation in der französischen Botschaft sagte er, dass sich die Nato neu organisieren müsse. Zur Rolle Deutschland merkte er an: »Ich wurde gefragt, was Deutschlands tun könne, und habe gesagt: sich wiederbewaffnen. Das darf man natürlich nicht sagen.« Er will, dass Europa ernsthaft mit Putin verhandelt – und sich dabei seiner guten Position bewusst ist. »Das Bruttoinlandsprodukt Russlands entspricht gerade einmal dem Spaniens. Die Europäer werden den Wiederaufbau Syriens bezahlen müssen. Aber ich befürchte, dass Europa nur für die schönen Augen von Putin zahlt.«

Wer wie Kepel große Pläne hat, die Welt neu ordnen will, braucht eine klare Botschaft und eine stimmige Geschichte. Kepel erzählt sie in seinem neuen Buch. Leider ist ihr aber zuweilen anzumerken, mit welchen Absichten sie erzählt wird.

Gilles Kepel: Chaos. Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann und Jörn Pinnow. Kunstmann-Verlag, Berlin 2019, 494 Seiten, 28 Euro