Der Soziologe ­Philipp Staab im Gespräch über den digitalen Kapitalismus

»Produktive soziale Konflikte«

Interview Von Peter Nowak

Der Soziologe Philipp Staab sieht das Zeitalter des digitalen Kapitalismus heraufziehen: Die Tech-Giganten planten, die Märkte regelrecht zu privatisieren. Dem Staat falle eine wichtige Rolle bei der Gestaltung dieser Entwicklungen zu.

Wie grenzen Sie den digitalen ­Kapitalismus von den vorherigen kapitalistischen Akkumulationsphasen ab?
Aus meiner Sicht bildet ein Programm zur Privatisierung von Märkten den Kern des digitalen Kapitalismus. Dieser Umstand wird mit dem viel­beschworenen Aufstieg digitaler Marktplätze oder Plattformen nicht klar genug deutlich. Google, Apple und Amazon bieten nicht nur Marktplätze an. Sie sind im Begriff mit den von ihnen bespielten Märkten deckungsgleich zu werden. Wenn Sie heute eine Dienstleistung oder ein Produkt über das mobile kommerzielle Internet beziehen, müssen Sie im Grunde durch das Tor eines dieser Unternehmen gehen. In der Regel fallen hierfür Gebühren an, sei es in Form direkter Abgaben etwa, wenn sie eine App über einen App-Store vertreiben, sei es in Form von Werbekosten, die Produzenten entrichten müssen, um den Zugang zu Konsumenten zu erlangen. Die Besteuerung von Marktbesitz im großen Stil scheint mir die eigentliche kapitalistische Innovation des kommerziellen Internet zu sein. Ich beschreibe dies als ein Akkumulationsregime in the making. Im entscheidenden Wachstumsfeld der Weltwirtschaft hat sich damit eine Praxis etabliert, die ein rein strategisches Verhältnis zu Marktprozessen aufweist. Dies lässt sich analytisch von neoliberalen Theorietraditionen unterscheiden, für die in der Regel die Neutralität von Märkten von großer Bedeutung ist, auch wenn die Theorie des Neoliberalismus mit seiner Praxis nicht ­deckungsgleich war.

Sie schreiben, Sie hätten mit den Vorarbeiten zu Ihrem gerade erschienen Buch »Digitaler Kapitalismus« begonnen, als noch das dezentrale, herrschaftsfreie Internet beschworen worden sei. ­Waren das von Anfang an Illusionen oder wurde das Internet vom Kapital gekapert?
Es wurde vom Kapital als ein neuer Raum ökonomischer Möglichkeiten entdeckt. Zum ersten Mal geschah dies im großen Stil während des Dot-Com-Booms der neunziger Jahre. Wir müssen auf dieses Jahrzehnt zurückblicken, wenn wir die Gegenwart richtig einordnen wollen. Während der neunziger Jahre trat beispielsweise zum ersten Mal die entscheidende Rolle des privaten Risikokapitals für die digitale Ökonomie in Erscheinung. Die Fragen, die sich heute zu Uber oder Wework stellen, sind Wiedergänger jener aufsehen­erregenden Spekulationen im XXL-Format. Google, Apple und Amazon wiederum sind in den Ruinen des Dot-Com-Booms zu ihrer heutigen Größe angewachsen, unter den Bedingungen bereinigter Konkurrenz und des massiven Ausbaus von Infrastruktur während der Neunziger. Womöglich kann man auch hieraus etwas lernen für die Zeit nach dem Dot-Com-Boom 2.0, wie ich die Phase von 2008 bis heute gelegentlich nenne.

Sie schreiben, ein Kennzeichen des digitalen Kapitalismus sei, dass das Kapital den Staat nicht mehr brauche. Riefen nicht auch for­distische Konzerne nur dann nach dem Staat, wenn sie in einer ­Krise Unterstützung brauchten? Handeln die Konzerne im digi­talen Kapitalismus nicht genauso?
Das Kapital braucht den Staat weiterhin in einem ganz grundsätzlichen Sinne zur Gewährleistung guter ­Geschäftsbedingungen, für die Ausbildung von Fachpersonal und so weiter. Eine Verschiebung im Vergleich zum Fordismus sehe ich in der Fähigkeit von Staaten, als Steuerstaaten vom digitalen Kapitalismus zu profitieren. Das ist aber auch nicht auf Digitalunternehmen begrenzt, sondern hat den finanzia­lisierten Kapitalismus als Ganzes geprägt. Eine neue Qualität hingegen hat aus meiner Sicht das Ausmaß, in dem der digitale Kapitalismus zur Erosion politischer Legitimität beiträgt und dies auch nur recht begrenzt leugnet. Denken Sie an Facebooks Weigerung, politische Falsch­informationen von der Plattform zu verbannen. Der Konzern war nicht einmal bereit, dieses Feigenblatt anzubieten.

 

Kann es einen digitalen Kapitalismus europäischer Prägung geben, lautet die Frage Ihres letzten Kapitels. Wie ist Ihre Antwort?
Ich halte das für möglich. Denken Sie an den Datenschutz. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die beispielsweise die Datenschutzgrundver­ordnung für ein grundsätzlich wirkungsloses Instrument halten. Was aber ihre Rechtswirklichkeit am Ende sein wird, entscheidet sich gerade in Konflikten, an denen sich viel mehr Akteure beteiligen könnten. Ich bin selbst gespannt, welchen Pfad man hier in Europa einschlagen wird. Auch im Bereich der Regulierung marktgleicher Plattformen sehe ich durchaus Versuche der Regel­setzung im Dienste des Allgemeinwohls. Zu beobachten ist auch, dass im Kontext von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz der Staat als Gestalter der Wirtschaft in einem bestimmten Außmaß zurückkehrt. Das ist eine interessante Entwicklung. Was aber noch fehlt, ist eine Orientierung im Sinne einer guten Gesellschaft, die den Leitfaden für Strategien der weiteren Digitalisierung hergeben würde. Aus meiner Sicht kann dafür in Europa im Grunde nur der Klimaschutz als demokratisch mehrheitsfähiger Bezugspunkt dienen.

Ein Rezensent schrieb in der gewiss nicht klassenkämpferischen »Wirtschaftswoche«, Sie seien auf die »Radikalisierung sozialer Ungleichheit im digitalen Kapi­talismus« nur am Rande eingegangen. Können Sie die Kritik akzeptieren?
Ich beschreibe die Radikalisierung sozialer Ungleichheit als logischen Effekt der Kapitaldynamiken und Geschäftsmodelle, die das kommerzielle Internet prägen. Diese Dynamik bildet sozusagen das Querschnitts­thema meines Buches, das deswegen nur relativ knapp in einem der hinteren Kapitel gesondert erfasst wird. Bücher müssen eben auch fertig werden. Wenn sie dann weitere Nachfragen produzieren, scheint mir das weniger Kritik als ein Ausweis ihrer Relevanz zu sein.

Interessant ist, dass Sie bei dem Begriff »Stamokap« auf den ­Medientheoretiker Geert Lovink verweisen und nur in einer Fußnote erklären, dass dieser damit auf die im 20. Jahrhundert im Marxismus-Leninismus verbreitete These vom »staatsmono­polistischen Kapitalismus« rekurriert. Doch war die Stamokap-Theorie auch bei den Jusos und in der IG Metall weit verbreitet. Zeigt sich hier Ihre Distanz zu den Theorien der Arbeiterbewegung?
Wahrscheinlich drückt es meine Distanz insofern aus, als dass ich als Nachgeborener des Jahrgangs 1983 mit vielen Diskussionen dieser Zeit nicht so viel anfangen kann, wie diejenigen, die sie seinerzeit geführt haben. Meine Distanz zur Stamokap-These in Bezug auf den digitalen ­Kapitalismus beruht allerdings auch auf recht profanen, empirischen ­Erwägungen: Für die USA der Obama-Administration lässt sich eine große Nähe von big tech und der Regierung relativ deutlich nachweisen. Mit Donald Trump sind die Beziehungen sehr viel komplizierter geworden.

Könnte die Stamokap-These, die von einer annähernden Verschmelzung von Kapital und Staat ausgeht, nicht gerade im Fall des digitalen Kapitalismus neue Bedeutung erlangen?
Das ist sicher möglich und als empirische Frage zu klären. Wenn Sie das aber gleich voraussetzen würden, liefen Sie Gefahr, die möglicherweise produktiven sozialen Kon­flikte zwischen Kapital, Staat und Gesellschaft nicht in den Blick zu ­bekommen.

Nach den Vorstellungen vieler Marxisten werden schon im Kapitalismus die Grundlagen für eine kommunistische Gesellschaft geschaffen. Welches revolutio­näre Potential besitzt der digitale Kapitalismus?
Die gegenwärtige Situation ist von einem blockierten Konflikt gekennzeichnet: Die Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus haben Gesellschaften unserer Art mit hochgradig subventionierten Dienst­leistungen und Assistenzsystemen überschwemmt. Dies geschah gerade in den USA während einer Phase der Reallohnstagnation und hat zur Popularität von Firmen wie Google, Amazon oder Uber beigetragen. Zugleich ist die digitale Ökonomie selbst Vorreiter neuer Formen der Ausbeutung von Arbeit. Während wir als Konsumenten profitieren, geraten wir also als Arbeitende weiter unter Druck. Ich kann mir die Auflösung dieses Knotens nur als politischen Prozess der Ausrichtung an neuen Zwecken vorstellen.

Philipp Staab: Digitaler Kapitalismus – Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit. Suhrkamp, Berlin 2019, 345 Seiten, 18 Euro