Die neue Eu-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will die EU in geopolitische Auseinandersetzungen stärken

Volldampf für Europa

Die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will bei den geopolitischen Auseinandersetzungen rund um die EU mitmischen.

Die ersten 100 Tage einer neuen Regierung, das ist traditionell die grace period, die Zeit, in der sich Opposition und Presse mit Kritik zurückhalten, während die neuen Mächtigen sich erst einmal einarbeiten. Wenn Ursula von der Leyen es schafft, ihre Ankündigungen zu verwirklichen, dann müssten die ersten 100 Tage ihrer neuen EU-Kommission stattdessen zur race period werden.

Von der Leyen trat am 1. Dezember mit einem Monat Verspätung ihr Amt als Kommissionspräsidentin an, nachdem bei den Anhörungen im Europäischen Parlament der ungarische und der polnische Kandidat sowie die französische Kandidatin für Kommissarsposten gescheitert waren.
Die Verzögerung will die neue Präsidentin mit einem Programm überkompensieren, das sie auf Englisch »A New Start for Europe« betitelt hat, was man getrost mit »Volldampf für Europa« übersetzen kann. Um die Dringlichkeit zu demonstrieren, hat sich von der Leyen in Brüssel keine Wohnung gesucht. Ein Nebenzimmer ihres Büros im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes, des Hauptquartiers der Kommission, dient ihr als Schlafzimmer.

Die schon fast soldatische Pflichterfüllung passt zum Programm der neuen EU-Kommission. Der Nato-Skepsis des französischen Präsidenten Emmanuel Macron setzt die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin eine Kommission entgegen, in der der von Macron entsandte Kommissar Thierry Breton nicht nur für das wichtige Binnenmarktressort zuständig ist, sondern auch für die Verteidigung. Was auf den ersten Blick erstaunt, ergibt aus dem Blickwinkel des Kommissionsvorsitzes Sinn, denn der militärische Komplex wird hier in erster Linie als rüstungsindus­­trieller gesehen. Im Konkurrenzkampf mit den USA, Russland und Großbritannien soll Breton sicherstellen, dass EU-Rüstungsunternehmen zum Zug kommen, wenn europäische Staaten und Verbündete der EU ihren Rüstungs­etat ausgeben.

Dabei kommt Breton seine Erfahrung als Vorstandsvorsitzender und CEO des IT-Konzerns Atos zugute. Man könnte bei Bretons fliegenden Wechseln zwischen Großkonzernen wie Atos, France Télécom oder Thomson einerseits und der Politik andererseits – er war von 2005 bis 2007 Finanzminister Frankreichs – an Interessenkonflikte denken. Das taten einige im Rechts­ausschuss des Europäischen Parlaments, wo Breton mit zwölf zu elf Stimmen nur äußerst knapp als geeignet für einen Kommissarsposten befunden wurde.

Es war ein Moment, in dem die Bildung der neuen Kommission doch noch ins nächste Jahr zu rücken drohte; schließlich war Breton bereits der Ersatzkandidat für die drei Wochen zuvor gescheiterte Sylvie Goulard, die wegen Korruptionsvorwürfen im Juni von ihrem Amt als Verteidigungsministerin Frankreichs hatte zurücktreten müssen.

Von der Leyen war als Verteidigungsministerin ja zuletzt auch umstritten, bevor sich Kanzlerin Angela Merkel entschloss, sie auf den Führungsposten nach Brüssel zu schicken. Seither wird von der Leyen nicht müde, sich ihrer Geburt in Brüssel zu rühmen. Ihr Vater Ernst Albrecht war während ihrer ersten 13 Lebensjahre ein hoher Beamter der damaligen EWG-Kommission, bevor er CDU-Landtagsabgeordneter und schließlich Ministerpräsident in Niedersachsen wurde. In dieser Zeit lernte Ursula neben deutschem Liedgut ­(dokumentiert auf Youtube: »Die Albrecht-Familie«) auch passabel Englisch und Französisch, was sie in die glückliche Lage versetzte, ihre Antrittsrede vor dem Europäischen Parlament nicht auf Deutsch halten zu müssen. Allerdings sprach sie nur in einer kurzen Passage Französisch, die wohl hauptsächlich dazu diente, ihre Vielsprachigkeit herauszustellen.

Überhaupt scheinen die französischen Erwartungen an eine Präsidentin, die diese Sprache fließend spricht, enttäuscht zu werden. Von der Leyen war kaum in Brüssel angekommen, da ­erhielten die Beamten im Cabinet der Kommission – jene Personen, die am engsten mit der neuen Präsidentin zusammenarbeiten werden – eine trockene Mitteilung: Die bisherige Praxis, den internen Schriftwechsel entweder auf Englisch oder auf Französisch abzuwickeln oder idealerweise zweisprachig, sei zu beenden. Ab sofort werde nur noch auf Englisch kommuniziert. Die zwei kurzen Sätze wären noch vor wenigen Jahren ein Affront gewesen.

Immerhin sprechen seit Macrons Amtsantritt oft sogar französische EU-Beamte Englisch. Doch das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland ist längst nicht mehr so eng wie einst. Merkel reagierte gereizt auf Macrons Kritik an der Nato, die er Anfang ­November für »hirntot« erklärte. Sicher gibt es auch in der deutschen Politik Zweifel an der US-amerikanischen Bereitschaft, im Fall einer russischen ­Aggression Truppen zur Verteidigung osteuropäischer Staaten zu schicken. In der Bundesregierung scheint man jedoch der Meinung zu sein, dass man ein solches Risiko vergrößert, wenn man es anspricht. Für Macron stehen dagegen die Einsätze der französischen Armee in ehemaligen französischen Kolonien Westafrikas im Vordergrund. Am Dienstag voriger Woche kamen in Mali 13 französische Soldaten bei einer Hubschrauberkollision während Gefechten mit Jihadisten ums Leben. Für diese Einsätze wünscht sich der französische Präsident deutlich mehr Unterstützung der Verbündeten.

Es geht also um die Frage, ob die künftige europäische Militärmacht sich eher nach Süden oder nach Osten orientieren soll und ob die Nato dafür angesichts eines derzeit unberechenbaren transatlantischen Verbündeten der ­geeignete Rahmen ist. Die nächsten Gelegenheiten, Gemeinsamkeit zu zeigen oder aber den Konflikt noch weiter zu befeuern, ergeben sich in dieser Woche beim Nato-Gipfel in London und beim Ukraine-Gipfel am 9. Dezember in ­Paris, wo die Außen­minister Frankreichs, Deutschlands, der Ukraine und Russlands aufeinandertreffen.

Obwohl sie bei beiden Gipfeltreffen nicht mit am Tisch sitzt, spielt Ursula von der Leyen eine nicht ganz unwichtige Rolle. Gleich vier Kommissarinnen und Kommisare kümmern sich unter Führung des ehemaligen spanischen Außenministers Josep Borrell in ihrer Kommission um die Außenbeziehungen. Borrell ist als Hoher Vertreter der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik Nachfolger der Italienerin Federica Mogherini. Doch er ist zugleich Kommissar, und da lautet seine Ressort­bezeichnung »A Stronger Europe in the World«. Das passt zu von der Leyens Ankündigung, die von ihr geleitete EU-Exekutive werde »die geopolitische Kommission« sein, »die Europa dringend braucht«.

Wie erfolgreich die EU im geopolitischen Machtkampf sein kann, wird sich spätestens am Neujahrstag zeigen. Am 31. Dezember läuft nämlich der Zehnjahresvertrag für die Leitung russischen Erdgases durch ukrainische Pipelines in die EU aus. Die Verhandlungen gelten als festgefahren; Russland betreibt mit Nachdruck sein Projekt der Ostsee-Pipeline »Nord Stream 2«, mit der die Ukraine umgangen werden könnte. Wann das allerdings der Fall wäre, weiß selbst der russische Präsident Wladimir Putin nicht zu sagen. Er wäre aber gerne die EU-Sanktionen los, die wegen der Annexion der Krim sowie des Konflikts in der Ostukraine verhängt wurden und hauptsächlich seine engsten Gefolgsleute treffen.

Die ukrainische Regierung sagt, notfalls hätte sie noch Gasvorräte für den gesamten Winter. Spätestens wenn im Frühling in Mittel- und Osteuropa die Heizungen ausgehen sollten, dürfte von der Leyens grace period wohl als beendet gelten.