Den Protestierenden im Irak geht es ums Ganze

Ums Ganze im Irak

Den Protestierenden im Irak ist der Rücktritt des Minister­präsidenten noch nicht genug. Das iranische Regime sieht seinen Einfluss in der Region schwinden.

Für das iranische Regime wird im Irak gerade ein Alptraum Realität. Denn inzwischen sieht es sich mit einer kaum noch unter Kontrolle zu bringenden Revolte in den schiitischen Regionen seines Nachbarlands konfrontiert. Im Irak brennt das iranische Konsulat in der »heiligen Stadt« Najaf, Stammesführer in Nasiriyah erklären dem iranischen Regime de facto den Krieg und junge Demonstrierende schlagen mit Schuhen auf Bilder iranischer Führungspersönlichkeiten ein.
Nicht nur die Straße ist in Aufruhr, immer deutlicher äußert sich auch der Klerus in Najaf und Kerbala.

Am Freitag vergangener Woche demonstrierte Großayatollah Ali al-Sistani, der bedeutendste geistliche Führer der irakischen Schiiten, über welchen Einfluss er verfügt. Tags zuvor hatten irakische Sicherheitskräfte ein weiteres Blutbad unter Protestierenden angerichtet und die Stimmung im Land befand sich am Siedepunkt. In seiner Predigt forderte al-Sistani deshalb den irakischen Ministerpräsidenten Adil Abd al-Mahdi zum Rücktritt auf, dieser reichte seine Demission nur vier Stunden später ein. Was auf den Straßen des Irak als Sieg bejubelt wurde, war ein herber Schlag für den Iran, hatte das Regime doch wochenlang alles unternommen, um Abd al-Mahdi an der Macht zu halten. In einem Monat verlor der Iran so zwei wichtige Regierungschefs in der Region; Ende Oktober war der libanesische ­Ministerpräsident Saad Hariri zurückgetreten.

Das iranische Regime versucht in Ländern, die es zu seinem Hegemonialbereich zählt, zwar die direkte Kontrolle über die Sicherheits- und Geheimdienste auszuüben, aber an der Spitze Regierungen der »nationalen Einheit« zu installieren, damit der Unmut über Korruption, Missmanagement und ökonomischen Verfall nicht nur die Statthalter der Mullahs trifft. Nach außen sollen diese Staaten den Eindruck vermitteln, sie seien souverän und pluralistisch, auch damit dringend benötigtes westliches Kapital fließt. Der Iran ist schließlich mehr oder weniger bankrott und kann sich seine außenpolitischen Kapriolen in den arabischen Nachbarländern finanziell kaum noch leisten.

Mit dem Rücktritt des irakischen Ministerpräsidenten, der am Sonntag vom Parlament bestätigt wurde, zeigte sich, dass der Iran die Lage kaum noch unter Kontrolle hat. Es dürfte zudem schwerfallen, ohne tiefgreifende Reformen und Neuwahlen überhaupt noch eine halbwegs funktionsfähige Regierung im Irak im Amt zu halten.

Für die Demonstrierenden allerdings ist klar: Dieser Rücktritt ist nur ein erster Schritt, sie wollen so lange auf der Straße bleiben, bis die ganze Regierung und politische Führungsschicht stürzt und der Iran sich aus dem Irak zurückzieht. Kurzum, es geht ihnen ums Ganze. Mit Gewalt lassen sich, anders als im Iran, die Proteste kaum mehr unterdrücken.

Dem stehen trotz des bisherigen Blutvergießens die Strukturen innerhalb des irakischen Systems im Wege, schließlich ist der Irak keineswegs eine monolithische Diktatur. Außerdem entfacht inzwischen jeder Tote nur eine neue ­Welle wütender Demonstrationen, in die sich jedes Begräbnis sofort verwandelt.
Auch die üblichen und jahrelang erfolgreich angewandten Strategien iranischer Propaganda funktionieren nicht mehr. Soll sie ­al-Sistani als feindlichen Agenten, gar Zionisten denunzieren? Das wird kaum funktionieren. Oder erneut konfessionelle Konflikte anheizen?

Da es diesmal um ein innerschiitisches Problem geht, dürften diese Rezepte wenig Erfolg haben. So könnte es sein – eine Ironie der Geschichte –, dass am Ende die Islamische Republik nicht etwa im Krieg mit den Imperialisten und Zionisten zugrundegeht, sondern über einen Ayatollah und wütende Bewohner heiliger Städte im Irak stolpert.