»London Calling« von The Clash hat die vergangenen 40 Jahre nicht gut überdauert

Bierseliger Eklektizismus

Vor 40 Jahren erschien »London Calling«, das dritte Album der britischen Punkband The Clash. Das als Meisterwerk gefeierte Doppelalbum klingt jedoch an vielen Stellen nach bemühter Leistungsschau.

Die erste und beste Best-of-Compilation von The Clash erschien 1988, zwei Jahre nach der endgültigen Auflösung der Band, unter dem absurden Titel »The Story of The Clash, Vol. 1« – absurd, weil es keine »Volume 2« gab. Das Doppelalbum enthält Songs von den fünf Studioalben der Band, die zwischen 1977 und 1982 erschienen, und eine Reihe von Singles aus diesem Zeitraum. Die 28 Stücke sind allesamt Hits.

Gleich sechs Songs stammen von »London Calling«, das vor 40 Jahren, am 14. Dezember 1979, herauskam und gemeinhin als das Meisterwerk der Band gilt. Der stets etwas altbackene Rolling Stone platzierte es 2003 in seiner Liste der besten Alben aller Zeiten auf dem achten Platz. Aus heutiger Sicht muss man allerdings feststellen, dass die Doppel-LP entweder einfach nicht gut gealtert ist oder immer schon zur Hälfte aus mittelprächtigem Füllmaterial bestand. Noch abwegiger ist die gängige Einordnung von »London Calling« in die seit Jahren für alles Mögliche gerne und ubiquitär verwendete Schublade des Post-Punk.

Immer wenn davon die Rede ist, dass ein Musikalbum die »Leistungsschau« einer Band darstelle, ist größte Vorsicht geboten. In diesem Fall wird oft mit Musikgenres herumhantiert, von denen die Band vorher aus guten Gründen die Finger gelassen hat: Plötzlich werden schmierige »virtuose« Soli abgeliefert, etwa auf dem Saxophon oder der E-Gitarre.

Ein britisches Bierzelt ist zwar nicht ganz das Gleiche wie ein deutsches, dennoch haben die Pubrock-Anklänge von The Clash bisweilen einen faden Beigeschmack.

Sich dazugesellende abgenudelte Blues-Riffs oder unnötige Coverversionen sollen einen respektvollen Wink an die Vorgängergeneration darstellen und die eigene Einschreibung in die Rockgeschichte vorantreiben. Ziellose, unmotivierte Jam-Einlagen vermitteln darüber hinaus die selbstgenügsame Freude der Band am gemeinsamen Musizieren. Meist sind diese Alben dann auch noch eine Doppel-LP mit einer Spielzeit von wenigstens einer Stunde. All dies trifft auf »London Calling« von The Clash zu.

Über die Entstehung der Aufnahmen ist denn auch zu lesen, dass die Band, bestehend aus den Songwritern Mick Jones und Joe Strummer, dem Bassisten Paul Simonon sowie dem Schlagzeuger Topper ­Headon, sich im Studio zunächst an Coverversionen von Rockabilly-, Rhythm ’n’ Blues- und Reggae-Stücken ausprobierten. Einige davon haben es auch auf das Album geschafft, ohne dass sie wirklich viel zu dessen Qualität beitragen. Gleich der zweite Song ist ein beliebig anmutendes Cover von »Brand New Cadillac«, einem Klassiker des britischen Rock ’n’ Rollers Vince Taylor.

Ein halbes Jahr zuvor hatten The Clash mit ihrer energiegeladenen Überarbeitung des Garage-Rock-Hits »I Fought the Law« noch ein hervorragendes Beispiel für ihre Klasse bei der Aneignung älterer Stile geliefert. Joe Strummer (der eigentlich John Graham Mellor hieß) spielte Mitte der Siebziger zunächst bei der Rockabilly- und Pubrock-Band The 101ers, bevor er als Lead-Sänger und Rhythmusgitarrist bei The Clash einstieg.

Dies hört man den ersten beiden Clash-Alben allerdings weniger stark an als dem Stil-Potpourri auf »London Calling«. Als dritter Track folgt mit »Jimmy Jazz« sogar der augenzwinkernde, aber scheiternde Versuch eines ausufernden Jazz-Jams mit Strummer als Crooner.

Ohne Frage ist auf »London Calling« auch eine ganze Reihe großartiger Songs enthalten: »Spanish Bombs«, »Lost in the Supermarket«, »Guns of Brixton« (von Paul Simonon geschrieben), »Clampdown«, »Hateful« und das berühmte Titelstück, mit dem das Album beginnt. Vor allem die erste Hälfte strotzt, abgesehen von den beiden genannten Spielereien, nur so vor Gassenhauern. In einem Interview zum 25jährigen Jubiläum der Doppel-LP sagte Jones, dass der ausgeprägte Eklektizismus bewusst mit Regeln des Punkrock brechen sollte, und Simonon ergänzte: »It was all about: What about that sound over there, and that music over there? What if we mix that with this, and then put it like this?« Diese Mixtur an Stilen provoziert allerdings die ­Beliebigkeit einer bloßen Leistungsschau.

Was der Band mit Disco- und Soul-Anleihen sowie jamaikanischen Einflüssen aus Dub und Reggae zumeist gut gelingt und was sie auf den Folgealben »Sandinista!« und »Combat Rock« noch weiter trieb, ist bisweilen öde oder sogar unangenehm, wenn es um Retrozitate aus Rock ’n’ Roll, Blues und Pubrock geht: Das Midtempo lädt zum Mitwippen ein, die Melodien leiern ein wenig, was dem Mitsingen entgegenkommt. Stilistisch erinnert es an das, was Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen mal über die Abwendung seiner Band vom Fun-Punk sagte: »Eine Zeit lang war es lustig, Country, Schlager und Rockabilly zusammenzumixen. Das Punkumfeld war uns zu dogmatisch geworden.« Aber dann funktionierte schnell der verspielt-gegenkulturelle Umgang mit den musikalischen Mitteln nicht mehr: »Du coverst ein Bierzelt und stehst irgendwann selbst mitten drin.«

Ein britisches Bierzelt ist zwar nicht ganz das Gleiche wie ein deutsches, dennoch haben die Pubrock-Anklänge von The Clash bisweilen einen faden Beigeschmack. Es ist Männermusik zum Schunkeln mit Refrains, zu denen man in einer Mischung aus Wut und Euphorie herrlich die Zeigefinger durch die Luft kreisen lassen kann. Gegen was sich die biertrunkene Emotion richtet, ist dann auch nebensächlich, da können die Texte von Joe Strummer noch so sehr gelobt werden. Und von einem selbstkritischen Songtext wie »Death or Glory«, in dem Strummer die heldenhafte Rolle des Rockmusikers hinterfragt, bleibt am Ende nur die geballte Faust von »Tod oder Ruhm« und das nachgeschobene, ernüchternde »(becomes) just another story« fällt nicht mehr auf. Ähnliches kennt man von Bruce Springsteens als nationalistisch missinterpretiertem Hit »Born in the USA« oder dem Rockdisko-Standard »Sunday Bloody Sunday« von U2, der vom Nordirland-Konflikt handelt.

Immerhin entschloss sich die Band kurzfristig dazu, mit »Train in Vain (Stand by Me)« einen beschwingten, mitreißenden Trennungssong ans Ende des Albums zu setzen, der ursprünglich gar nicht zur Veröffent­lichung auf »London Calling« vorgesehen war und daher auf der Hülle des Originals nicht vermerkt wurde. So findet die ansonsten vor sich hin mäandernde D-Seite der Doppel-LP einen glänzenden Abschluss.

Dass sowohl Dub- als auch Rockabilly-Einflüsse bei der Entwicklung von Post-Punk Ende der siebziger Jahre eine große Rolle spielten, ist unbestritten. Während The Clash jedoch vor allem aus einer Retro-Perspektive ältere Genres in ihren Stil einzuarbeiten versuchten, entfernten sich zahlreiche englische Bands immer weiter vom inzwischen etablierten Punkrock oder trieben diesen mit neuen Mitteln auf die Spitze: Die Gitarren klingen verhallt, mal jangly, mal metallisch, und Synthesizer wurden präsenter.

Wenige Wochen vor der Veröffentlichung von »London Calling« brachten Public Image Ltd., die Band um den ehemaligen Sex Pistols-Sänger John Lydon, mit »Metal Box« ihr zweites Album heraus, das noch dubbiger und noisiger klang als ihr Debüt, zugleich tanzbare Diskorhythmen aufwies und auf dem Lydon seine besondere Form des Sprechgesangs weiterentwickelte. Siouxsie and the Banshees veröffentlichten mit »Join Hands« ebenfalls ihre zweite Platte und führten ihre Gothic-Variante des Punk fort, nachdem Robert Smith (The Cure) ein kurzes Intermezzo als Tour-Gitarrist gegeben hatte. Von Wire erschien das dritte Album, »154«, arty Post-Punk mit starkem Synthie-Einsatz, zur gleichen Zeit kam das bahnbrechende Debüt »Cut« von The Slits um Viv Albertine und Ari Up heraus – eine Blaupause für die spätere Riot Grrrl-Bewegung –, und von Mark E. Smiths The Fall das zweite Album »Dragnet«.

Und die Industrial-Vorreiter Throbbing Gristle verfolgten auf »20 Jazz Funk Greats« einen noch radikaleren ­Ansatz. All dies geschah im Herbst von 1979.
In New York City hatte sich derweil um Lydia Lunch (Teenage Jesus and the Jerks) und James Chance (The Contortions) eine Szene zusammengefunden, die unter dem Namen No Wave ihre Vision davon entwickelten, was nach Punk kommen sollte. The Clash wirken mit »London Calling« zwar experimentierfreudig, für die Entwicklung von Post-Punk waren allerdings andere verantwortlich.

Vielleicht handelt es sich bei The Clash letztlich eher um eine Singles- als um eine Album-Band, ähnlich wie bei den Buzzcocks. Auf der Best-of »The Story of The Clash, Vol. 1« fehlen sogar einige Songs, die zu den herausragenden Stücken von Mick Jones und Joe Strummer gehören: etwa das schöne, melodisch-melancholische »All the Young Punks« von »Give ’Em Enough Rope«, oder der verträumte, soulige Uptempo-Popsong »Hitsville U.K.« (mit Gastsängerin Ellen Foley) von »Sandinista!«, ganz zu schweigen von Stücken wie »Remote Control« und »I’m so Bored With the U.S.A.« vom selbstbetitelten Debüt. Von »London Calling« fehlt mindestens das Stück »Hateful«, dessen akkordeonlastiges Intro einen Celtic-Punk-Einschlag vermittelt, der hier sehr gut passt in Kombination mit dem Call-and-Response-Gesang.

Es hätte einfach keiner breit angelegten Leistungsschau bedurft, denn die Band hatte nichts zu beweisen.

Bei Sony erschien im November anlässlich des Jubiläums eine Neuauflage von »London Calling«.