XYZ ungelöst. Ursachen der Inflationierung des Generationenbegriffs

Antreten, um abzutreten

Die Inflationierung des Generationenbegriffs spiegelt nicht die Vielfalt der Lebens- und Erfahrungswelten wieder, sondern die Unterwerfung des Individuums unter die Cliquen.

Wer sich einen Überblick über die diversen »Generationen« verschafft, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs von Historikern und Küchenpsychologen entdeckt oder von selbsterklärten Generationszugehörigen erfunden wurden, kann dem Missverständnis erliegen, eine Generation werde eher durch einen Lebensstil als durch altersspezifische Erfahrungen zusammengehalten. Bei der 1948 von Jack Kerouac ausgerufenen »Beat Generation« waren es der Bebop, die Drogen, der Zen-Buddhismus und die Neigung zu vagabundischen Existenzformen, die dazu dienten, Künstler unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Alters wie den 1914 in eine bürgerliche Familie hineingeborenen William S. Burroughs und den mehr als zwölf Jahre jüngeren Allen Ginsberg, dessen Eltern Kommunisten waren, als Mitglieder derselben Gruppe zu behandeln.

Zur Generation der Achtundsechziger werden keineswegs alle in den späten Sechzigern akademisch Sozialisierten gezählt, sondern nur diejenigen mit der passenden politischen Haltung; zur Generation der »Stunde null« gehören Deutsche, die das Ende des Zweiten Weltkriegs als Kleinkinder erlebten, ebenso wie ehemalige Wehrmachtsmitglieder; und die von Florian Illies erdachte »Generation Golf«, bereits Symptom der Entleerung des Generationenbegriffs, bestimmt sich durch kaum mehr als die Vertrautheit mit Playmobil, Raider, Kinderschokolade, Cappuccino und Helmut Kohl. Mit der von Robert Capa entdeckten »Gene­ration X«, die chronologisch früher anzusiedeln ist, teilt die »Generation Golf« als deren bundesdeutsch-piefige Variante den Markenfetischismus, den Hedonismus und die Erfahrung der Berufstätigkeit beider Elternteile (»Schlüsselkinder«), während sie sich durch Wohlstandszufriedenheit und Besitzstandswahrung wiederum von ihr unterscheidet.

Die Verwandlung der Generationen in Stilphänomene
verstärkt die Atomisierung des gesellschaftlichen Lebens und macht sie zugleich unkenntlich.

Auf die »Generation X« folgten die »Generation Y« und die »Generation Z«, deren Angehörige sich gegenseitig »Generation Y« oder »Generation X« nennen, um nicht wieder mit A anfangen zu müssen. Inzwischen kennt die Zeitgeistanalyse außerdem die »Generation Käfer« (Jürgen Brater), die »Generation Praktikum« (David Bebnowski), die »Generation Berlin« (Heinz Bude) und die »Generation Doof« (Stefan Bonner/Anne Weiss); jüngst ernannte der Jugendforscher Klaus Hurrelmann das Verzichtkollektiv der Klimakinder zur »Generation Greta«.

Charakteristisch für die Inflationierung des Generati­onenbegriffs ist ein sich wechselseitig bestätigendes und immer weiter ausdifferenzierendes Spiel der Fremd- und Selbstdefinitionen, in dessen Verlauf sich die Generationen als Lebensstilkollektive herausbilden, gegeneinander abgrenzen, voneinander abspalten und so schnell, wie sie entstanden sind, wieder verschwinden. Die Atomisierung des gesellschaftlichen Lebens, auf die die Verwandlung der Generationen in Stilphänomene reagiert, wird dabei verstärkt und zugleich unkenntlich gemacht. Einerseits erlaubt die Zugehörigkeit zu den »Millennials« oder zur »Generation Prekär« denjenigen, die sie für sich in Anspruch nehmen, sich all das, was ihnen nur widerfährt, als individuelle Erfahrung zuzueignen. Die Zugehörigkeit zu spezifischen Klassen oder Schichten ebenso wie die zu ­einer besonderen Altersgruppe bezeichnet dagegen tendenziell das Kontingente, Blinde und gerade deshalb scheinbar Unentrinnbare am Individuum; das, wofür es nichts kann und was es dennoch prägt. Aus dem Widerspruch, sowohl eine Tatsache zu bezeichnen, als auch die Menschen, die dieser Tatsache unterliegen, zu deren Beseitigung aufzufordern – aus der Gleichzeitigkeit also von analytisch-deskriptiven und ­appellativen Momenten – bezog der Klassenbegriff lange Zeit seine Brisanz.

Andererseits reproduziert und bekräftigt die Binnendifferenzierung der »Generationen« nur den Druck, den die jeweilige Clique auf die Einzelnen ausübt, indem sie ihnen ermöglicht, sich von anderen Cliquen, aber nicht von anderen Menschen zu unterscheiden. Die Verselbständigung des Generationenbegriffs seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist gerade dadurch möglich geworden, dass die Rede von der Generation schon immer so drohend wie emphatisch auf die Zukunft bezogen blieb, im Blick auf die der Generationenverband sich zu einen und zu kräftigen habe.

An der Wirkungsgeschichte des 1914 von Hermann Claudius geschriebenen Lieds »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« lässt sich die Mischung aus Begeisterung und Drohung veranschaulichen, die mit dem Begriff der Generation in Deutschland besonders eng verbunden ist. Zu dem Lied der Arbeiterbewegung, als das es Karriere machte, wurde Claudius’ Text eher durch ein Missverständnis, das allerdings für die heroische Aufladung der »Jugend« in der deutschen Lebensreform ebenso symptomatisch ist wie für die deutsche Arbeiterbewegung. Der Text des Lieds erschien erstmals im Juni 1914 in Die arbeitende Jugend, der Jugendbeilage des sozialdemokratischen Hamburger Echo, und wurde ein Jahr später von Michael Englert vertont, dem Rechtssekretär der deutschen freien Gewerkschaften, der im Nebenberuf Chorleiter war. Im selben Jahr wurde es bei einer Protestkundgebung von Teilen der Hamburger SPD gegen den Krieg gesungen, woraufhin es zum populären Lied bei Arbeiterjugendtagen wurde.

Sein Schöpfer, ein Urenkel von Matthias Claudius, hatte es aber weniger als Arbeiter- denn als Jugendlied, weniger als Ausdruck eines Klassen- denn eines Generationenbewusstseins geschrieben. Claudius, seit seiner Jugend begeisterter Deutschnationaler, war über die Wandervogel- und Lebensreformbewegung zu den sozialdemokratischen Gewerkschaften gekommen und ­begründete sein Engagement für die »Klasse« völkisch statt historisch-materialistisch. Beim Treffen der jugendbewegten Freideutschen auf dem Hohen Meißner 1933 unterzeichnete er das Führergelöbnis der deutschen Dichter.

Die Berufung auf die Bindekraft der Generation fungiert in Claudius’ Lied nicht als ein Mittel verwandelnder Tradierung des Vergangenen, sondern als Appell zum vitalistisch munteren Großreinemachen, das sein erfrischendes Destruktionspotential aus der unverdorbenen Gemeinschaftlichkeit der Clique bezieht. Schon die erste Zeile preist die männerbündische Borniertheit, in der die Jugend sich gegen ungedeckte Erfahrung abhärten soll, als pausbäckige Zukunftsfähigkeit an: »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’/und die alten Lieder singen,/und die Wälder widerklingen,/fühlen wir, es muss gelingen:/Mit uns zieht die neue Zeit.« Wer nach dem unmissverständlichen Auftakt noch immer glaubt, es gehe in dem Lied um die Verherrlichung der naturverändernden Kraft menschlicher Arbeit statt um die Unter­werfung unter eine als Ausdruck des Volkscharakters begriffene Natur, wird von der zweiten Strophe eines Schlechteren belehrt: »Eine Woche Hammerschlag,/eine Woche Häuserquadern/zittern noch in unsern Adern,/aber keiner wagt zu hadern,/herrlich lacht der Sonnentag.« Die unmenschlichen Arbeitsbedingungen müssen in menschliche gar nicht verwandelt werden, wo mit Sonne, Wald und Flur (»Birkengrün und Saatengrün«) die Natur statt als ­widersprüchliches Objekt von Aneignung und Beherrschung als launiger Naherholungspark erscheint, in dem die Jungspunde nach getanem Tagwerk nach Belieben herumtollen dürfen, während ihre Genossinnen von selbstbestimmten Geschlechtswesen zu jungsozialistisch gezähmten Rehen mutieren, mit denen es endlich keine Probleme mehr gibt: »Mann und Weib und Weib und Mann/sind nicht Wasser mehr und Feuer,/um die Leiber legt ein neuer/Frieden sich, wir blicken freier,/Mann und Weib, uns fürder an.«

Die Mischung aus schlechtem Reim, krachledernem Pathos und kraftstrotzender Banalität bringt nicht nur unverstellt zum Ausdruck, was Deutsche sich unter einer Versöhnung von Arbeit und Spiel vorstellen, sondern besagt auch etwas über die Emphase der »Generation« insgesamt, deren Zugehörige sich nur deshalb in die Brust werfen können, weil sie mit der Zukunft schwanger zu gehen glauben. Der Gestus autosuggestiver Selbstaufmöbelung, der viele Lieder der deutschen Jugendbewegung prägt und sie noch dort, wo sie in pazifistischer Absicht gesungen wurden, Kriegsliedern ähnlich macht, verweist auf den Zusammenhang des modernen Gene­rationenbegriffs mit totalitären Tendenzen der Massengesellschaft. Von der frühen Neuzeit bis in die Hochzeit des Bürgertums, als die Abfolge der Generationen noch lebens- und erfahrungsgeschichtlich wirksam war und die Selbstdeutung der Menschen substantiell beeinflusste, war »Generation« keine zeitdiagnostische Kategorie.

Vielmehr fungierte das Wort als sich immer stärker dynamisierendes, gleichwohl brauchbares Kriterium zur Bestimmung des Verhältnisses von Überlieferung und Erneuerung, Umwandlung und Wiederholung. Die Existenz von Generationen war die unhinterfragte Voraussetzung der Art und Weise, wie die Mitglieder einer Familie in Abhängigkeit von ihrer Gesellschaftsschicht und ihrem Geschlecht ihre Biographie als Teil eines größeren historischen Zusammenhangs sahen. »Generation« war der Modus, in dem sich eine Geschichte vollzog, die der Naturgeschichte weder entronnen noch weiterhin unmittelbar mit ihr eins war.

Beschworen, angehimmelt und rabiat angefeindet werden »Generationen« erst, seit der realgeschicht­liche Generationen- als Überlieferungszusammenhang zerfallen ist, ohne dass dieser Zerfall den Indi­viduen größere Freiheit gegenüber sich selbst und der Gesellschaft ­ermöglicht hätte. Darum ist es kein Zufall, dass der Generationenbegriff seinen für Deutschland prägenden völkisch-revolutionären Doppelcharakter zur Zeit des Ersten Weltkriegs erhielt. In dieser Zeit kam der militärische Gehalt der Selbstkollektivierung und Selbstmobilisierung, die dem modernen Generationenbegriff innewohnen, zu sich selbst. Wenn Historiker heutzutage bei der Beschreibung gesellschaftlicher Gruppendynamiken den Begriff der »Generationenkohorte« bemühen, rufen sie den Konnex von »Generation« und kollektiver Selbstmobilisierung in Erinnerung und setzen ihn oft genug fort.

Im Ersten Weltkrieg hatte sich in Deutschland zum ersten Mal auf breiter Ebene eine buchstäbliche Verwandlung der Generationen in »Kohorten«, in Zu­träger probaten Menschenmaterials vollzogen; der qualitative Aspekt des Generationenbegriffs, seine Verbindung mit je spezifischen, unwiederholbaren Erfahrungen, war statistisch-numerisch nivelliert worden: jedes Individuum potentielle Rekrutierungsmasse für eine Gemeinschaft, im Vergleich mit der sich der Fa­milienverband als anachronistisch erwies. Für diese Verwandlung der »Generation« von einer lebens- und erfahrungsgeschichtlichen in eine quasi-militärische Kategorie bewies die Jugendbewegung unabhängig davon, ob sie sich als pazifistisch verstand, mit ihren Ritualen gemeinschaftlicher Selbstermunterung ein beängstigendes Gespür: Ihre Protagonisten agierten allesamt wie Leute, für die die Geburt dem ersten Morgenappell und der Tod dem ­Abtreten vom Schlachtfeld entspricht.

Die Diversifizierung der »Generationen« in nicht mehr durch Erfahrung und Lebensalter, sondern durch Habitus und Stil geprägte Cliquen wiederholt den Druck, den die als Kohorten zu sich selbst gekommenen Generationen auf die Einzelnen ausübten, statt ihn im Namen der Inkommensurabilität von Individuum und Generation zu bannen. Die Erfindung sogenannter Mehrgenerationenhäuser besiegelt den Zerfall der Generationen in lauter kleine Zwangsverbände. Weil es keine Familien mehr gibt, müssen alle, aus welchem Grund und wo auch immer sie zusammenkommen, ob in der Schule, im Büro, an der Universität oder im Pflegeheim, auf Familie machen. Weil spontane Begegnungen zwischen 20- und 80jährigen, zwischen 18- und 40jährigen, also »intergenerationelle Kontakte« sich kaum mehr ereignen, werden sie im Rahmen posthumaner Rentnervollversorgung oder als pompös aufgemotzter Kultur- und Bildungsaustausch inszeniert. Umgekehrt können Leute, die jünger als ihre Untergebenen sind, sich im Berufsleben widerspruchslos als Chefs aufspielen, während Alte, deren Erfahrung auf dem gegenwärtigen Stand der Menschenverwaltung keinen Wert mehr hat, wie die Kleinkinder behandelt werden, die in Wahrheit ihre Vorgesetzten sind.

Weil der autoritäre Gehalt, der der Berufung auf Zugehörigkeit zu einer Generation schon immer innewohnte, nicht verschwunden ist; weil man die »Generationen« vielmehr braucht, damit die in ihnen Zusammengeschweißten nicht auf die Idee kommen, dass jeder Einzelne mehr und zugleich weniger ist als die Gruppe, mit der er verschmelzen soll, während doch die lebendige Erfahrung, die mit dem Begriff der Generation einmal verbunden war, immer rasanter verfällt, multiplizieren sich heutzutage die Generationen wie früher die K-Gruppen. Doch was zerfällt, wird durch den Zerfall nicht abgeschafft, sondern existiert undurchdrungen fort. Generationengeschichten, die diesen Prozess nicht einfach wiederholen wollen, müssten sich all dessen erinnern, was generationell verbundene Menschen voneinander trennt, indem es sie mit anderen Menschen verbindet. Wenn überhaupt, sind es solche auflösenden Verbindungen, in denen die Einzelnen noch Luft zum Atmen haben.