Film Festival »Unknown Pleasures« zeigt weniger bekannte US-amerikanische Filme

Ausnahmefrauen und Laiendarsteller

Die Berliner Filmreihe »Unknown Pleasures« zeigt US-amerikanisches Kino abseits des Mainstreams. ­Besonderes Augenmerk legen die Macher in diesem Jahr auf die Schauspielerin und Regisseurin Elaine May.

»I’m in trouble. Can you come?« Es ist nicht das erste Mal, dass der Gangster Nicky in Schwierigkeiten steckt. Und es ist auch nicht das ­erste Mal, dass er seinen Kindheitsfreund Mikey um Hilfe bittet. Elaine May folgt in ihrem düsteren Buddy-Movie »Mikey and Nicky« von 1976 den beiden manchmal anrührenden und doch oft unerträglichen Männern durch eine lange, rastlose Nacht. Ständig werden die Orte gewechselt, die Pläne geändert, ständig wird hastig vom Tisch aufgesprungen, aus der Tür gestürmt, gerannt und gestolpert. Denn Nicky (John Cassavetes), anfangs ein Häufchen heulenden Elends mit Magenkrämpfen, hat seinem Boss Geld gestohlen und glaubt sich, vielleicht sogar durch Mitwirken von Mikey (Peter Falk), verfolgt und zum Tode verurteilt. Von Angst und nervösem Übermut getrieben geht es rauchend, trinkend und redend durch Bars und Straßen, wobei May die agressiven Seiten der Männer mit einer Schonungslosigkeit zeigt, die den zugefügten Schmerz, anders als in vielen Gangsterfilmen, nicht durch spielerische Coolness verharmlost – etwa wenn Nicky einen schwarzen Mann rassistisch beleidigt oder seine Geliebte schikaniert und erniedrigt. »Don’t expect to like them«, schickte das Studio damals warnend voraus. Das Publikum konnte dann aber gleich den ganzen Film nicht leiden.

Elaine May betreibt in ihren Filmen ein hinter­gründiges Spiel mit Rollenklischees, ihnen ist eine große Freude an Regelverstößen anzumerken.

Wiederzuentdecken ist dieser ­wenig beachtete Film nun im Rahmen der Filmreihe »Unknown Pleasures« im Kino Arsenal in Berlin. Die von Hannes Brühwiler kuratierte elfte Ausgabe dieser Reihe, die bis zum 16. Januar läuft und bei dem unabhängige US-amerikanische Filme gezeigt werden, widmet der hauptsächlich als Schauspielerin bekannten Filmemacherin May in diesem Jahr ein Spezialprogramm. Im Kino (New) Hollywoods war May eine Ausnahmefrau: Als erste Regisseurin seit Ida Lupino, also seit den fünf­ziger Jahren, erhielt sie von einem Studio einen umfassenden Regie­vertrag.

Als May ins Regiefach wechselte, war sie am Broadway bereits eine feste Größe, nämlich als eine Hälfte des erfolgreichen Stand-up-Comedy-Duos mit Mike Nichols (Nichols and May). In ihrem Regiedebüt »A New Leaf« (1971), hierzulande unter dem dämlichen Titel »Keiner killt so schlecht wie ich« erschienen, spielt sie die sagenhaft tollpatschige Botanikerin Henrietta Lowell, die durch ­ihren enormen Reichtum dem pleitegegangenen Privatier Henry Graham (Walter Matthau) als ideales Opfer erscheint. May spielt äußerst nuanciert das Klischee Wissenschaft­lerin mit der dicken Brille auf der Nase durch, ohne dass die Figur am Ende den im Hollywood-Kino üblichen Transformationsprozess durchläuft, sie wird weder schön noch geschmeidig. Während Henrietta in der Ehe mit Henry noch mehr bei sich ankommt, lösen sich nicht nur die Mordabsichten ihres Mannes in Nichts auf; schließlich ist er sogar bereit, an ihrer Seite eine akademische Laufbahn einzuschlagen.

Für May war »A New Leaf« trotz Erfolgs bei Publikum und Kritik ein persönliches Desaster. Ihre dreistündige Schnittfassung konnte sie beim Studio nicht durchsetzen, ­Paramount nahm ihr den Film weg, sie zog vor Gericht. Trotz der Querelen folgte 1972 »The Heartbreak Kid« (»Pferdewechsel in der Hochzeitsnacht«), eine dunkle romantische Komödie. Auch »Mikey and Nicky« war Anlass für einen erbitterten Streit um den endgültigen Schnitt. »Ishtar« (1987), ihre letzte Regie­arbeit, beendete wegen schlechter Einspielergebnisse ihre Karriere. May galt in Hollywood als »schwierig«, eine Zuschreibung, die bei männlichen Regisseuren oft als besondere Auszeichnung gilt, bei ­Frauen aber einem Arbeitsverbot nahekommt.

Mays Filme, denen hintergründiges Spiel mit Rollenklischees eigen und große Freude an Regelverstößen anzumerken ist, stehen paradigmatisch für das Programm der diesjährigen Ausgabe von »Unknown Pleasures«. So finden sich etwa die disruptiven, sprunghaften Bewegungen, die »Mikey and Nicky« auszeichnen, auch in anderen Filmen des Programms, etwa im Eröffnungsfilm »Give Me Liberty« (2019) von Kirill Mikhanovsky. Der Film erzählt einen chaotischen Tag im Leben von Vic (gespielt von Chris Galust, im echten Leben Elekt­riker), einem Krankentransportfahrer in Milwaukee. Durch seine russische Verwandtschaft, die zu einer Beerdigung gefahren werden will und sich samt Blumensträußen und Akkordeon in seinen Kleinbus quetscht, gerät er in stressigen zeitlichen Rückstand. Tracy, eine schwarze Frau mit ALS-Erkrankung macht Ärger, weil sie zu spät zur Arbeit kommt, eine andere Patientin hat Angst, ihren Auftritt bei einer Talentshow zu verpassen, in ­einem Viertel brechen Unruhen aus, der Arbeitgeber macht über Funk Druck.

Ein Großteil des Films spielt in dem Transporter, der seine Fahrgäste wie in einer Waschtrommel durchschüttelt, andere Stationen sind enge Wohnungen, eine Behinderteneinrichtung und ein Friedhof. Während die mobile Kamera Vic dabei folgt, wie er sich seinen Weg durch graue winterliche Straßen bahnt, wird die weitgehend an Rollstühle und Rollatoren gebundene multiethnische Truppe temporär zusammengeschweißt. Mikhanovsky, der Mitte der neunziger Jahre mit seiner russisch-jüdischen Familie in die Vereinigten Staaten emigrierte, greift in dem Film auf eigene Erfahrungen zurück. Er selbst arbeitete als Fahrer für Menschen mit Behinderung. »Give Me Liberty« ist ein warmherziger, zutiefst menschlicher Film ohne einen Anflug von Sen­timentalität. Das Ensemble besteht überwiegend aus Laien.

Der furiose Rockmusikerinnentrip »Her Smell« (2018) führt dagegen ­rasend und taumelnd in die Abgründe von Narzissmus, Sucht und Selbst­zerstörung. Becky Something (die großartige Elisabeth Moss) ist die Frontfrau der Riot-Grrrl-Band Some­thing She. Sie hat das nötige Charisma, um das Gesicht einer krawalligen Band zu sein, aber sie ist auch ver­letzend, grausam und manipulativ. Alex Ross Perry, der bei »Her Smell« Regie führte, ist ein Spezialist für dysfunktionale Figuren. Wie kaum ein anderer vermag der in New York lebende Filmemacher in die Schichten des beschädigten Selbst vorzudringen und Beziehungen als Hochspannungsverhältnisse zu erzählen. Abseits der dramaturgischen Konventionen des Musik-Biopic ist »Her Smell« als psychoaktiver Katastrophenfilm angelegt. In fünf hochverdichteten Akten, von denen drei Backstage-Dramen sind, begibt sich der Film in die Mikrobereiche des inneren Aufruhrs und der Selbstauf­lösung. Sean Price Williams’ Kameraführung erzeugt das fast klaustrophobische Gefühl, mit und in Becky eingesperrt zu sein; dabei gelingt das Kunststück, zugleich die zahllosen Parallelgeschehen mit ebensolcher Intensität in den Blick zu bekommen. Ständig schwärmen Leute um Becky herum, die Bandkolleginnen (Agyness Deyn, Gayle Rankin), der Manager, die Mutter, der Ex mit der gemeinsamen kleinen Tochter, obskure Gurus, die für gute Energie im schlechten Klima sorgen wollen. Man fühlt sich an Musikerinnen wie Courtney Love erinnert, das reale Vorbild war jedoch Axl Rose. Perry lässt die bei männlichen Troublemakern habituellen ­Extreme von einem entfesselten weiblichen Körper ausagieren. »Her Smell« wirft die Frage danach auf, welche Zumutungen man für künstlerische Größe zu ertragen bereit ist und ob man auch nüchtern »high« sein kann. »I don’t want to quit, I just want to be in control of it«, singt Becky am Ende.

Das elfte American Independent Film Festival »Unknown Pleasures« findet noch bis zum 16. Januar 2020 im Kino Arsenal in Berlin statt.