Der Deutsche Alpenverein zeigt als Anachronismus Beständigkeit

150 Jahre Hüttenzauber

Der Deutsche Alpenverein besteht seit mehr als 150 Jahren. Das ist weniger selbstverständlich, als es klingt, denn die Organisation ist reich an Widersprüchen.

Zur Zeit seiner Gründung im Jahr 1869 war es das Hauptziel des Deutschen Alpenvereins (DAV), die Bergwelt für die Bevölkerung zu erschließen, sie also durch Wege- und Hüttenbau sowie Kartographierung ­erreichbar zu machen. .

Die Erschließung diente nicht immer der ganzen Bevölkerung, von den zwanziger Jahren bis zum Ende des Nationalsozialismus jedenfalls nicht für Jüdinnen und Juden. Diese wurden von den zahlreichen Antisemitinnen und Antisemiten in allen Vereinssektionen spätestens ab 1933 ausgeschlossen. Dem Heimatideal der Nazis gemäß kam als weiteres Ziel in jener Epoche die »Bewahrung der Bergwelt« hinzu, denn man befürchtete die Zerstörung der alpinen Landschaft durch die Industrialisierung und die rapide Entwicklung von Verkehrsmitteln.

Die Erschließung der Alpen wurde 1977 für beendet erklärt, der Bau ­zusätzlicher Hütten wurde verboten. Hieran zeigt sich geradezu exemplarisch die Widersprüchlichkeit des DAV. Denn die Erschließung wird fortgesetzt, indem der Komfort der Unterkünfte des Vereins stetig erhöht wird. Die Wirtinnen und Wirte werten ihre Hütten mit allerlei Annehmlichkeiten auf – von Duschen mit warmem Wasser über Saunas bis zu W-Lan, Handyladestationen, einem ausgefeilten Speiseangebot sowie ­diversen Freizeitangeboten. So werden die Hütten für ein größeres Publikum attraktiv gemacht.

Das liegt nicht primär am DAV, sondern vor allem am hohen Konkurrenzdruck, dem die Betreiberinnen und Betreiber der Alpenvereinshütten unterliegen. Sie operieren auf einem Markt, auf dem sie um Gäste buhlen müssen. Deshalb lassen die Wirtsleute sich ständig Neues einfallen, seien es fragwürdige »Klettergärten«, Klettersteige, Flying-Fox-Bahnen, an denen man mit einer Seilrolle durch die Luft fliegen kann, oder andere Angebote für die modernen Abenteurerinnen und Abenteurer, die sich im »Playground of Europe« austoben möchten, wie der englische Alpinist Leslie Stephen die Alpen vor knapp 150 Jahren in seinem gleichnamigen Buch nannte.

Die Hütten sind längst in das Tourismus-Marketing ihrer Regionen eingebunden und fungieren neben Seilbahnen, Spaßbädern, Luxushotels, Naturattraktionen und Erlebniswegen als assets im Kampf um die Gäste. Zwar könnte der Alpenverein als Besitzer der Unterkünfte diese Aufrüstung unterbinden, das Thema wird stets heiß diskutiert. Doch er muss sich den erwähnten ökonomischen Zwängen beugen.

Der Verein hat in seiner ­Geschichte auch deshalb einen starken Wandel durchlaufen, weil die Bedürfnisse der Menschen sich ändern, oder besser gesagt: sich vermehren. Ob das auch heißt, dass ihre Ansprüche steigen, zumal beim Besuch der hochalpinen Gebirgswelt, bleibt fraglich. Deshalb gründete sich 2016 in der Münchner Sektion des Vereins die Arbeitsgruppe »Quo vadis, DAV?« und fragte provokant: »Ist der Sonnenuntergang geduscht wirklich schöner?« Viele Sektionen, allen voran jene aus München und dem bayerischen Oberland, ähneln heutzutage eher modernen Freizeitdienstleistern.

Die Hütten sind in der Regel schon längst in das Tourismusmarketing ihrer Regionen eingebunden und fungieren als »Assets« im Kampf um die Gäste.

Mit ihren jeweils rund 178 000 Mitgliedern und vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie einem Freizeitangebot, das weit über Bergsport hinausgeht, wird in diesen Sektionen besonders deutlich, dass der DAV ­sowohl seiner Rolle als Sportverein als auch der als Naturschutzorganisation nachkommen muss. Daran zeigt sich, welche Ausmaße der spätkapitalistische Freizeitbetrieb annimmt. Auch die Reproduktion der Ware Arbeitskraft muss organisiert werden, am besten – so wie beim DAV – durch gutes Management und viel ehrenamtliche Arbeit. Ohne diese gäbe es den Verein schlichtweg nicht. Auch dieses Thema ist ein Dauerbrenner in vereinsinternen Diskussionen. Reproduktionsarbeit bleibt unbezahlt, in vielerlei Hinsicht.

Auch in seiner Rolle als Naturschutzorganisation bewegt sich der DAV nicht immer sicher. So bekannte er sich im Dezember in einer Pressemitteilung zum alpinen Skisport, obwohl er sich seit Jahren gegen den Bau neuer Seilbahnen ausspricht, das Skitourengehen als umweltschonende Alternative anpreist und ­generell eher eine kritische Haltung zum Skitourismus einnimmt. Zwar wiederholte der Verein die ­Forderung, den Ausbau und die Zusammenlegung bestehender Anlagen zu beenden. Doch heißt es auch: »Zu einer tragfähigen Zukunft des alpinen Wintersports in den Alpen gehören zweifelsfrei der Erhalt und die Modernisierung von Skigebieten innerhalb der bestehenden Grenzen.«Einem Bericht der Süddeutschen Zeitung zufolge lehnt der DAV sogar einen ­moderaten Ausbau der maschinellen Beschneiung im Einzelfall nicht ab. Dies ist nur eines der  Dilemmata, in denen sich der Verein befindet. Auch andere widersprüchliche Interessen muss er vereinbaren, so etwa die von Wanderern und Mountainbikern, die in den vergangenen Jahren immer mehr durch E-Bike-Fahrer abgelöst wurden.

Die Gefahr, dass der DAV an den eigenen Widersprüchen zerbricht, besteht allerdings nicht. Das Gegenteil scheint der Fall, denn der Verein erfreut sich seit Jahren eines ungebremsten Wachstums. Auch der Österreichische Alpenverein verzeichnet Jahr für Jahr einen immensen Zuwachs an Mitgliedern. Outdoor-Sport wird immer beliebter und Sportarten wie Klettern und Skitourengehen erfahren einen regelrechten hype. Das macht sich auch am Bau immer neuer Kletterhallen bemerkbar, mit denen der Verein der die Bergwände künstlich in die Stadt holt.

Anscheinend gibt es ein stärker werdendes Bedürfnis nach Naturerlebnis und Abenteuer in den Bergen, das man psychologisch als eine Sehnsucht nach Freiheit, Lebendigkeit und Ursprünglichkeit deuten könnte. »Auf den Bergen ist Freiheit«, heißt es in Friedrich Schillers 1803 veröffentlichtem Trauerspiel »Die Braut von Messina«. Es handelt sich also keineswegs um ein neues Phänomen, stellte doch der Tourismus und besonders der Alpinismus von Beginn an eine Art Reaktion und romantische Gegenbewegung zur Industrialisierung und Naturferne in der kapitalistischen Moderne dar. Dabei hat er jedoch eine neue Industrie etabliert, wie Hans Magnus Enzensberger in seinem 1958 in der Zeitschrift Merkur erschienenen ­Aufsatz »Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus« bemerkte. »Bewusstseinsindustrie« nannte Enzensberger sie in Anlehnung an Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Begriff der »Kulturindustrie«. Diese neuen, alten Sehnsüchte werden durch soziale Medien, insbesondere durch Instagram, weiter befeuert, wo der Berg immer öfter als Kulisse für die Selbstdarstellung dient. Das »reflexive Projekt des Selbst« nannte das der britische Soziologe Anthony Giddens. Das Projekt der Erschließung der Bergwelt hat sich damit zwar verselbständigt, doch spielt der DAV nach wie vor seine Rolle darin, wenn auch eine nicht ganz einheitliche. Als Anachronismus zeigt er durchaus ­Beständigkeit, und das seit mehr als 150 Jahren.